14.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.10.2006

Sitzungs­haft­befehl nach versäumtem Gerichtstermin ist unver­hält­nismäßig10 Tage Haft trotz Entschuldigung verstoßen gegen Freiheits­grundsatz

Gegen die Beschwer­de­führerin war vor dem Amtsgericht ein Strafverfahren wegen uneidlicher Falschaussage anhängig. Nachdem bereits eine Haupt­ver­handlung stattgefunden hatte, bestimmte das Amtsgericht neuen Termin auf den 21. Dezember 2005. Ein Verle­gungs­gesuch des Verteidigers, der darauf hinwies, dass die Beschwer­de­führerin an diesem Tag an einer von ihrer Krankenkasse genehmigten Kur im Bayerischen Wald teilnehme, lehnte das Amtsgericht ab.

Um an dem Kurs jedenfalls teilweise teilzunehmen, begab sich die Beschwer­de­führerin am 19. Dezember 2005 in den Bayerischen Wald. Am Morgen des 21. Dezember 2005 teilte sie der Geschäftsstelle des Amtsgerichts telefonisch mit, sie sei „eingeschneit“ und könne daher in der Haupt­ver­handlung nicht erscheinen. Daraufhin erließ das Amtsgericht in der Haupt­ver­handlung gegen die Beschwer­de­führerin einen Haftbefehl („Sitzungs­haft­befehl“ gem. § 230 Abs. 2 Straf­pro­zess­ordnung; dieser setzt nur voraus, dass der Angeklagte der Haupt­ver­handlung unentschuldigt fernbleibt). Aufgrund dieses Haftbefehls wurde die Beschwer­de­führerin an einem Freitag im Januar 2006 verhaftet. In der zehn Tage später anberaumten Haupt­ver­handlung wurde die aus der Haft vorgeführte Beschwer­de­führerin freigesprochen und der Haftbefehl aufgehoben.

Rechtsmittel der Beschwer­de­führerin gegen den Haftbefehl wurden vom Oberlan­des­gericht verworfen, da die Beschwer­de­führerin der Haupt­ver­handlung unentschuldigt ferngeblieben sei. Ihre hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob den Beschluss des Oberlan­des­ge­richts auf, da er die Beschwer­de­führerin in ihrem Freiheits­grundrecht verletze. Das Oberlan­des­gericht habe die Verhält­nis­mä­ßigkeit des Haftbefehls nur unzureichend geprüft. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Oberlan­des­gericht hat die Erwartung, dass die Beschwer­de­führerin zu künftigen Haupt­ver­hand­lungs­terminen nicht erscheinen werde, zunächst damit begründet, dass sie trotz des in jener Woche anstehenden Haupt­ver­hand­lungs­termins ihre Kur im Bayerischen Wald angetreten habe. Dabei übersieht das Oberlan­des­gericht, dass die Beschwer­de­führerin nicht verpflichtet war, wegen der anstehenden Haupt­ver­handlung gänzlich von dieser Kur Abstand zu nehmen, zumal bei Nichtteilnahme eine Gebühr von 69 € zu entrichten war. Die Vermutung, dass sie von vornherein beabsichtigt habe, der Verhandlung fernzubleiben, ist nicht belegt; dagegen spricht eine vom Verteidiger vorgelegte Bescheinigung der Gemeinde über schneebedingte Verkehrs­be­hin­de­rungen.

Außerdem hat das Oberlan­des­gericht wesentliche Gesichtspunkte nicht gewürdigt, welche die Bereitschaft der Beschwer­de­führerin, an weiteren Haupt­ver­hand­lungs­terminen teilzunehmen, nahe legten. So hat sich das Oberlan­des­gericht nicht mit der Anwesenheit der Beschwer­de­führerin in der früheren Haupt­ver­handlung ausein­an­der­gesetzt. Anlass zur Erörterung hätte hier umso mehr bestanden, als sich die Beweislage in jener Haupt­ver­handlung offenbar zu Gunsten der Beschwer­de­führerin verändert hatte und sie im neuerlichen Termin mit einem Freispruch rechnen konnte. Darüber hinaus hat sich das Oberlan­des­gericht auch nicht damit ausein­an­der­gesetzt, dass das Amtsgericht noch am 22. Dezember 2005 um eine – ersichtlich unver­hält­nis­mäßige – Vollstreckung des Haftbefehls ersucht hatte, obwohl die Weihnachtstage bevorstanden und die Durchführung einer Haupt­ver­handlung nicht absehbar war. Das Oberlan­des­gericht hätte ferner die Möglichkeit eines Vorführbefehls (hier wird der Beschuldigte erst am Tag der Haupt­ver­handlung in Polizei­ge­wahrsam genommen und dem Gericht vorgeführt) als milderes Mittel näher in Betracht ziehen müssen. Schließlich bedurfte auch die Dauer der Inhaftierung näherer Prüfung. Warum es hier erforderlich gewesen sein soll, die Beschwer­de­führerin noch vor dem Wochenende zu verhaften und die Haft auf zehn Tage zu erstrecken, ist nicht dargelegt und erschließt sich auch nicht aus sonstigen Umständen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 114/06 des BVerfG vom 29.11.2006

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