18.10.2024
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Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 23077

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Beschluss19.07.2016Bundesverfassungsgericht2 BvR 470/08
Vorinstanzen:
  • Amtsgericht Laufen, Urteil26.02.2007, 2 C 0116/06
  • Oberlandesgericht München, Urteil16.01.2008, 3 U 1990/07
  • Oberlandesgericht München, Beschluss25.02.2008, 3 U 1990/07
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss19.07.2016

Unter­schiedliche Eintrittspreise für einheimische und auswärtige Besucher eines überregional ausgerichteten Freizeitbads diskriminierendVerfassungs­beschwerde gegen diskri­mi­nierende Preisgestaltung durch kommunales Freizeitbad erfolgreich

Das Bundes­verfassungs­gericht hat einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, die sich gegen die Preisgestaltung durch ein kommunales Freizeitbad richtete. Der aus Österreich stammende Beschwer­de­führer hatte mit seiner Verfassungs­beschwerde vornehmlich eine Benachteiligung gerügt, da er als Besucher des Freizeitbads den regulären Eintrittspreis zu entrichten hatte, während die Einwohner der umliegenden Betrei­ber­ge­meinden einen verringerten Eintrittspreis bezahlten.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens ist öster­rei­chischer Staats­an­ge­höriger mit Wohnsitz in Österreich. Bei einem Besuch eines von mehreren Gemeinden und einem Landkreis betriebenen Freizeitbades im Bertechsgadener Land musste er den regulären Eintrittspreis entrichten, während den Einwohnern dieser Gemeinden ein Nachlass auf den regulären Eintrittspreis von etwa einem Drittel gewährt wurde. Der Beschwer­de­führer erhob Klage zum Amtsgericht und forderte wegen unzulässiger Benachteiligung die Rückzahlung des Diffe­renz­betrags und die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger den Eintritt künftig zu dem ermäßigten Entgelt zu gewähren. Das Amtsgericht wies die Klage ab; die gegen das Urteil eingelegte Berufung war ebenfalls erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwer­de­führer eine Verletzung des allgemeinen Gleich­heits­satzes (Art. 3 Abs. 1 GG) und eine Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) durch Unterlassung einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union.

BVerfG bejaht Grund­rechts­ver­letzung

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht überprüft die fachge­richtliche Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts grundsätzlich nur darauf, ob sie willkürlich ist oder auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruht oder mit anderen verfas­sungs­recht­lichen Vorschriften unvereinbar ist.

Von Fachgerichten verneinte Grund­rechts­ver­letzung nicht nachvollziehbar

Die Annahme der Fachgerichte, dass die Grundrechte des Beschwer­de­führers vorliegend nicht anwendbar oder jedenfalls nicht verletzt seien, lässt sich unter keinem Blickwinkel nachvollziehen. Die unmittelbare Bindung der öffentlichen Gewalt an die Grundrechte hängt weder von der Organi­sa­ti­o­nsform ab noch von der Handlungsform. Das gilt auch dann, wenn der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt auf privat­rechtliche Organi­sa­ti­o­ns­formen zurückgreifen. In diesen Fällen trifft die Grund­rechts­bindung nicht nur die dahin­ter­stehende Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern auch unmittelbar die juristische Person des Privatrechts selbst. Unerheblich ist auch, ob die für den Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt handelnde Einheit "spezifische" Verwal­tungs­aufgaben wahrnimmt, ob sie erwer­bs­wirt­schaftlich oder zur reinen Bedarfsdeckung tätig wird ("fiskalisches" Handeln) und welchen sonstigen Zweck sie verfolgt.

Vor diesem Hintergrund besteht an der unmittelbaren und unein­ge­schränkten Bindung der Beklagten des Ausgangs­ver­fahrens an die Grundrechte kein Zweifel. Sie ist ein öffentliches Unternehmen, dessen einzige Gesell­schafterin eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, die sich ihrerseits auf einen Landkreis und fünf Gemeinden stützt.

Ungleich­be­handlung auswärtiger Besucher müsste durch hinreichende Sachgründe gerechtfertigt sein

Es ist auch nicht zu erkennen, dass die Auffassung der Fachgerichte im Ergebnis hinzunehmen sein könnte, weil die in Rede stehende Ungleich­be­handlung gerechtfertigt wäre. Zwar ist es Gemeinden nicht von vornherein verwehrt, ihre Einwohner bevorzugt zu behandeln. Die darin liegende Ungleich­be­handlung Auswärtiger muss aber durch hinreichende Sachgründe gerechtfertigt sein. Verfolgt eine Gemeinde das Ziel, knappe Ressourcen auf den eigenen Aufgabenbereich zu beschränken, Gemein­de­an­ge­hörigen einen Ausgleich für besondere Belastungen zu gewähren oder Auswärtige für einen erhöhten Aufwand in Anspruch zu nehmen, oder sollen die kulturellen und sozialen Belange der örtlichen Gemeinschaft dadurch gefördert und der kommunale Zusammenhalt dadurch gestärkt werden, dass Einheimischen besondere Vorteile gewährt werden, kann dies mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sein. Das Bad der Beklagten ist jedoch auf Überre­gi­o­nalität angelegt, soll Auswärtige ansprechen und gerade nicht kommunale Aufgaben im engeren Sinne erfüllen.

Das Urteil des Oberlan­des­ge­richts verletzt Art. 3 Abs. 1 GG in dessen Ausprägung als Willkürverbot ferner dadurch, dass es Art. 49 EGV (Art. 56 AEUV) mit Blick auf das darin enthaltene Diskriminierungsverbot nicht als Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB ansieht. Diese Annahme lässt sich unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt begründen.

OLG hätte Gerichtshof der Europäischen Union anrufen müssen

Darüber hinaus verletzt das Urteil des Oberlan­des­ge­richts den Beschwer­de­führer auch in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die nationalen Gerichte sind von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof der Europäischen Union anzurufen, wenn die Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV vorliegen. Sie verletzen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), wenn die Auslegung und Anwendung der Zustän­dig­keitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Das Oberlan­des­gericht hat seine Vorlagepflicht offensichtlich unhaltbar gehandhabt, weil es sich hinsichtlich des materiellen Unionsrechts nicht hinreichend kundig gemacht hat. Dies gilt zunächst für den Umgang des Oberlan­des­ge­richts mit der Frage, ob die Beklagte als öffentliches Unternehmen unmittelbar an die Grundfreiheiten gebunden ist. Angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Bindungswirkung des Diskri­mi­nie­rungs­verbots und der Grundfreiheiten für vom Staat beherrschte Unternehmen liegt die Annahme einer unmittelbaren Bindung der Beklagten an die in Rede stehenden Vorgaben des Unionsrechts nahe. Ferner hat der Gerichtshof der Europäischen Union zu Entgeltsystemen für die Nutzung kultureller Einrichtungen, die Gemein­de­ein­wohner bevorzugen, festgestellt, dass wirtschaftliche Ziele die darin liegende Beschränkung der Grundfreiheiten nicht rechtfertigen könnten und dass auch steuer­rechtliche Gründe nur dann anzuerkennen seien, wenn ein spezifischer Zusammenhang zwischen der Besteuerung und den Tarifvorteilen bestehe.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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