21.11.2024
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Dokument-Nr. 7508

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Bundesverfassungsgericht Beschluss04.02.2009

Untersuchung im Intimbereich bei Unter­su­chungs­häft­lingen nur bei konkreten Verdachts­mo­menten verfas­sungsgemäßIntimun­ter­suchung ist nicht generell zulässig - Einzel­fa­ll­prüfung notwendig

Unter­su­chungs­häftlinge dürfen bei der Einlieferung in eine Haftanstalt nur dann im Intimbereichs untersucht werden, wenn es konkrete Verdachts­momente gibt. Eine generelle und unabhängig vom Einzelfall durchgeführte Untersuchung ist unzulässig. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Falle eines Steuerberaters, der wegen des Vorwurfs der Untreue in Unter­su­chungshaft saß. Die bei ihm vorgenommene Intimun­ter­suchung sei rechtswidrig gewesen.

Der Beschwer­de­führer, ein Steuerberater, wurde morgens gegen sieben Uhr, als er seine Kinder zur Schule brachte, wegen Verdachts der Bestechlichkeit und der Untreue zum Nachteil des berufs­s­tän­dischen Versor­gungswerks für Rechtsanwälte festgenommen und in Untersuchungshaft verbracht. Nach seinen Angaben musste er sich bei Aufnahme in die Unter­su­chungshaft entkleiden und durch Justiz­voll­zugs­beamte im Intimbereich untersuchen lassen (Anusinspektion). Widerspruch und Antrag auf gerichtliche Entscheidung hiergegen blieben erfolglos. Das Hanseatische Oberlan­des­gericht erachtete die Maßnahme für rechtmäßig. Die allgemeine Anordnung, neu aufzunehmende Gefangene entsprechend zu untersuchen, sei zur Wahrung der Ordnung der Vollzugsanstalt (§ 119 Abs. 3 StPO) erforderlich gewesen, nämlich um zu verhindern, dass Betäu­bungs­mittel, Geld oder andere verbotene Gegenstände am oder im Körper versteckt eingeschmuggelt würden.

Steuerberater legt Verfas­sungs­be­schwerde ein

Die dagegen erhobene Verfas­sungs­be­schwerde des Beschwer­de­führers war erfolgreich. Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellte fest, dass das Persön­lich­keitsrecht des Beschwer­de­führers verletzt sei:

Justiz ist nicht generell zur Intimun­ter­suchung berechtigt - Jeder Einzelfall ist besonders abzuwägen

Zu Recht ist das Oberlan­des­gericht zwar davon ausgegangen, dass das Einbringen von Drogen und anderen verbotenen Gegenständen in Justiz­voll­zugs­an­stalten eine schwerwiegende Gefahr für die Ordnung der jeweiligen Anstalt darstellt. Es hat aber weder dem besonderen Gewicht der im vorliegenden Fall berührten grund­recht­lichen Belange noch den besonderen Einschränkungen ausreichend Rechnung getragen, die sich für die Zulässigkeit eingreifender Maßnahmen im Vollzug der Unter­su­chungshaft aus dem genera­l­klau­sel­artigen Charakter der Eingriffs­er­mäch­tigung des § 119 Abs. 3 StPO sowie aus den Besonderheiten der Unter­su­chungshaft ergeben.

Häftling hat Anspruch auf Rücksichtnahme

Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht prinzipiell vermeiden. Der Gefangene hat insoweit aber Anspruch auf besondere Rücksichtnahme. Der bloße Umstand, dass Verwal­tungs­a­bläufe sich ohne eingriffs­ver­meidende Rücksichtnahmen einfacher gestalten, ist hier noch weniger als in anderen, weniger sensiblen Bereichen geeignet, den Verzicht auf solche Rücksichtnahmen zu rechtfertigen. Dies gilt in verschärftem Maße für Eingriffe während der Unter­su­chungshaft, die auf der Grundlage bloßen Verdachts verhängt wird.

Oberlan­des­gericht verkannte die rechtlichen Voraussetzungen für eine Intimun­ter­suchung

Indem das Oberlan­des­gericht die vom Beschwer­de­führer vorgetragenen Umstände des konkreten Falles nicht gewürdigt hat, sondern davon ausgegangen ist, die fragliche Maßnahme sei bei Antritt der Unter­su­chungshaft generell und unabhängig von den Umständen des Einzelfalles zulässig, hat es dem Persön­lich­keitsrecht des Beschwer­de­führers (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) nicht hinreichend Rechnung getragen. Darüber hinaus hat das Gericht auch Möglichkeiten der milderen Ausgestaltung des Eingriffs wie die nach Auskunft der Justizbehörde üblicherweise praktizierte, das Schamgefühl weniger intensiv berührende Durchführung einer etwaigen Inspektion von Körperhöhlen durch einen Arzt oder eine Ärztin nicht erwogen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 16/2009 des BVerfG vom 26.02.2009

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