21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss24.10.2006

Gerichte müssen Sachverhalt von Diszi­pli­n­a­r­maß­nahmen im Strafvollzug vollständig aufklären

Der Beschwer­de­führer befindet sich in Strafhaft. Die Vollzugsanstalt verhängte gegen ihn eine Diszi­pli­n­a­r­maßnahme in Form einer Einkaufssperre von einem Monat und entzog ihm die Besitzerlaubnis für seine Schreibmaschine, da der Beschwer­de­führer mehrfach unerlaubte Rechtsberatung betrieben und dadurch die Ordnung der Anstalt gestört habe.

Der Beschwer­de­führer wandte sich gegen die verhängten Maßnahmen mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Er machte geltend, die Mitgefangenen nicht beraten, sondern lediglich die von diesen vorbereiteten Schreiben durchgesehen und in ordentliches Deutsch übertragen zu haben. Dafür habe er weder eine Gegenleistung erhalten noch eine solche verlangt.

Das Landgericht wies den Antrag als unbegründet zurück. Der Antragsteller habe Rechtsberatung in einem weiteren Sinne betrieben. Es gebe auch nicht den mindesten Zweifel daran, dass der Beschwer­de­führer entgegen seiner Behauptung dies gegen Entgelt in welcher Form auch immer getan habe und nicht etwa aus reiner Menschen­freund­lichkeit. Diese Erkenntnis schöpfe das Gericht aus seiner jahrelangen Erfahrung im Strafvollzug, weswegen es keiner weiteren Ermittlungen bedürfe. Wer daran glaube, der Antragsteller hätte seine Dienste umsonst und uneigennützig erbracht, verkenne die Realitäten des Strafvollzugs.

In der Akte des landge­richt­lichen Verfahrens finden sich von der Justiz­voll­zugs­anstalt gefertigte Niederschriften von Aussagen mehrerer Mitgefangener. Diese hatten nicht in Abrede gestellt, dem Beschwer­de­führer gelegentlich Gefälligkeiten - wie etwa das Abgeben von Tabak - erwiesen zu haben. Alle Befragten hatten jedoch bestritten, dass dies in einem direkten Zusammenhang mit den vom Beschwer­de­führer geleisteten Hilfestellungen gestanden habe.

Die gegen die Entscheidung des Landgerichts gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde war erfolgreich. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob den Beschluss des Landgerichts auf. Er verletze den Beschwer­de­führer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG, weil er auf unzureichender Aufklärung des Sachverhalts beruhe.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Es ist schon unklar, welche konkreten Verhal­tens­weisen des Beschwer­de­führers das Gericht als erwiesen angesehen hat. Während die Vollzugsanstalt dem Beschwer­de­führer vorwarf, er habe Rechtsberatung betrieben, indem er für Mitgefangene Schriftsätze verfasst habe, hat die Kammer hierzu nur festgestellt, er habe „Rechtsberatung in einem weiteren Sinne“ betrieben. Welche konkreten Tätigkeiten der Beschwer­de­führer für Dritte entfaltet haben soll, wurde nicht geklärt. Nähere Feststellungen waren jedoch erforderlich; denn die Verhängung der Diszi­pli­n­a­r­maßnahme konnte als rechtmäßig nur auf der Grundlage von Tatsa­chen­fest­stel­lungen bestätigt werden, die eine Subsumtion unter den Begriff der Rechtsberatung im Sinne des Rechts­be­ra­tungs­ge­setzes und unter die dort aufgestellten Kriterien für deren Zulässigkeit erlaubten. An der Feststellung der für diese Subsumtion erforderlichen Tatsachen fehlte es hier.

Das Landgericht konnte auch nicht davon ausgehen, auf eine Prüfung der Vereinbarkeit des Verhaltens des Beschwer­de­führers mit den Bestimmungen des Rechts­be­ra­tungs­ge­setzes komme es nicht an, weil jede mit konkret vereinbarten Gegenleistungen verbundene Hilfstätigkeit für Mitgefangene grundsätzlich schon im Hinblick auf die damit verbundene Gefahr subkultureller Abhängigkeiten einen disziplinarisch zu ahndenden Pflichtverstoß darstelle. Das Gericht durfte die Rechtmäßigkeit der verhängten Diszi­pli­n­a­r­maßnahme nicht unter Auswechslung der von der Anstalt angeführten Gründe bestätigen, sondern hatte die Maßnahme auf der Grundlage des von der Anstalt erhobenen Vorwurfs der unerlaubten Rechtsberatung zu prüfen.

Auch insoweit wären im Übrigen die gerichtlichen Sachver­halts­fest­stel­lungen unzureichend gewesen. Die Annahme, dass im Strafvollzug Hilfsdienste für Mitgefangene typischerweise nicht ohne Gegenleistung erbracht werden, entspricht einer in Fachkreisen verbreiteten Einschätzung. Auch wenn entsprechende in der Praxis gewonnene Erkenntnisse in die Würdigung konkreter Sachverhalte einfließen mögen, erübrigen sie nicht die Ausein­an­der­setzung mit konkreten Einwänden gegen die Richtigkeit der anstaltlichen Sachver­halts­dar­stellung. Im vorliegenden Fall fehlt bereits jede nähere Darstellung und Würdigung der konkreten Einlassungen der von der Anstalt befragten Mitgefangenen. Aus der Akte ist nicht ersichtlich, dass diese dem Beschwer­de­führer überhaupt zur Kenntnis gegeben wurden. Es fehlt auch jede nähere Feststellung zu der Frage, welcher Art das behauptete Gegen­leis­tungs­ver­hältnis war – ob es sich etwa um die Erbringung oder konkrete Zusicherung konkret bestimmter Gegenleistungen für konkret bestimmte Hilfsdienste handelte oder nur um ein allgemeines Verhältnis wechselseitiger Bereitschaft zu gelegentlich auch tatsächlich erbrachten Gefälligkeiten. Weiter fehlt jede nähere Ausein­an­der­setzung mit der Frage, inwiefern nach dem konkreten Charakter dieses Verhältnisses die Gegen­sei­tig­keits­be­ziehung tatsächlich ordnungs­störende Abhän­gig­keits­ver­hältnisse begründete. Da Gefangenen nicht jede Gegen­sei­tig­keits­be­ziehung und damit jede Form des normalen menschlichen Miteinander als ordnungsstörend verboten sein kann, war eine Abgrenzung hier nicht entbehrlich.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 113/06 des BVerfG vom 17.11.2006

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