14.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss29.11.2006

Neuer Haftbefehl nach voraus­ge­gangener Haftver­scho­nungs­ent­scheidung ist verfas­sungs­widrigWiderruf der Haftverschonung nur bei Änderung der Umstände

Dem Beschwer­de­führer liegt zur Last, Steuern in Höhe von über 1,6 Millionen DM verkürzt zu haben. Wegen Fluchtgefahr erließ das Amtsgericht gegen ihn im Jahr 2002 einen Haftbefehl, der einige Tage später gegen Meldeauflagen, die Abgabe des Passes und die Hinterlegung einer Kaution außer Vollzug gesetzt wurde. Im Oktober 2006 verurteilte das Landgericht den Beschwer­de­führer zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da der Verteidiger des Beschwer­de­führers Revision eingelegt hat. Außerdem erließ das Landgericht einen neuen, auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl, der noch am gleichen Tage vollstreckt wurde. Die Haftbeschwerde des Beschwer­de­führers verwarf das Oberlan­des­gericht als unbegründet. Die Verurteilung stelle einen neu hervor­ge­tretenen Umstand dar, der die erneute Verhaftung des Beschwer­de­führers erforderlich mache (§ 116 Abs. 4 Nr. 3 Straf­pro­zess­ordnung).

Die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts auf, da sie den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht verletze. Der Umstand allein, dass nach der Haftverschonung ein (noch nicht rechtskräftiges) Urteil ergangen sei, könne den Erlass eines neuen Haftbefehls bei im Übrigen unveränderten Umständen nicht rechtfertigen. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen. Dieses hat unter Beachtung des vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht dargelegten Maßstabes erneut über die Aufrecht­er­haltung der Unter­su­chungshaft zu entscheiden. Liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der gewährten Haftverschonung nicht vor, wovon nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auszugehen ist, muss der neue Haftbefehl aufgehoben und der Beschwer­de­führer unverzüglich aus der Unter­su­chungshaft entlassen werden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 Straf­pro­zess­ordnung darf die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nur dann widerrufen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurtei­lungs­grundlage seit der Gewährung der Haftverschonung geändert haben. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil kann im Einzelfall zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung durch Neuerlass eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass die später vom Tatrichter verhängte oder die von der Staats­an­walt­schaft beantragte Strafe von der Prognose des Haftrichters erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. War dagegen zum Zeitpunkt der Außer­voll­zug­setzung des Haftbefehls mit der später ausgesprochenen – auch höheren – Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, darf die Haftverschonung nicht durch Erlass eines neuen Haftbefehls widerrufen werden. Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verscho­nungs­be­schlusses gesetzte Vertrau­en­s­tat­bestand als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch.

Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Das Landgericht hat sich mit den Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO erst gar nicht befasst. Die Wider­rufs­vor­aus­set­zungen einer Haftver­scho­nungs­ent­scheidung können jedoch nicht dadurch umgangen werden, dass kurzerhand ein neuer Haftbefehl erlassen wird, ohne den oben beschriebenen verfas­sungs­recht­lichen Rahmen zu beachten. Der Begünstigte einer Haftver­scho­nungs­ent­scheidung hat grundsätzlich Anspruch darauf, die Rechtskraft des Urteils in Freiheit zu erwarten. Das Oberlan­des­gericht hat einseitig auf die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren abgestellt, ohne darzulegen, warum der Strafausspruch zum Nachteil des Beschwer­de­führers erheblich von der bisherigen Straferwartung abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht hat. Vor allem aber hat das Oberlan­des­gericht nicht berücksichtigt, dass der Beschwer­de­führer durch das strikte Befolgen der ihm erteilten Auflagen über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren hinweg einen Vertrau­en­s­tat­bestand geschaffen hat und hierin grundsätzlich schutzwürdig ist.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 116/06 des BVerfG vom 01.12.2006

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