21.11.2024
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Dokument-Nr. 9096

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Beschluss16.01.2010Bundesverfassungsgericht2 BvR 2299/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JuS 2010, 839 (Michael Sachs)Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2010, Seite: 839, Entscheidungsbesprechung von Michael Sachs
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Bundesverfassungsgericht Beschluss16.01.2010

BVerfG: Auslieferung bei drohender Verurteilung zu einer so genannten „erschwerten“ lebenslangen Freiheitsstrafe verfas­sungs­widrigAuslieferung verstößt gegen unabdingbare Grundsätze deutscher Verfas­sungs­ordnung

Die Auslieferung eines türkischen Staats­an­ge­hörigen ist verfas­sungs­widrig, wenn dem Beschuldigten in seinem Heimatland eine so genannte „erschwerte“ lebenslange Freiheitsstrafe. Eine Mitwirkung deutscher Behörden an der Auslieferung ist vor dem Hintergrund der ihm drohenden Strafe mit dem Grundgesetz unvereinbar. Dies geht aus einem Beschluss des Bundes­verfassungs­gerichts hervor.

Der Beschwer­de­führer besitzt die türkische Staats­an­ge­hö­rigkeit. Ihm wird vorgeworfen, er habe als Gebiets­ver­ant­wort­licher der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) die Ausführung eines Bombenanschlags auf einen Provinz­gou­verneur beschlossen und angeordnet. Aufgrund eines Haftbefehls eines türkischen Schwurgerichts ersucht die türkische Regierung um seine Auslieferung. Seit dem 2. April 2009 befindet sich der Beschwer­de­führer in Auslie­fe­rungshaft. In der Türkei droht ihm im Falle einer Verurteilung eine so genannte „erschwerte“ lebenslange Freiheitsstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Auch eine Begnadigung ist nur wegen einer dauerhaften Krankheit, wegen Behinderung oder aus Altersgründen möglich. Das Oberlan­des­gericht Hamm erklärte die Auslieferung für zulässig.

Auslieferung mit Rechten aus Grundgesetz unvereinbar

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat der dagegen erhobenen Verfas­sungs­be­schwerde stattgegeben und den Beschluss des Oberlan­des­ge­richts aufgehoben. Eine Mitwirkung deutscher Behörden an seiner Auslieferung ist vor dem Hintergrund der ihm drohenden Strafe mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar. Über die Auslieferung ist damit noch nicht endgültig entschieden. Vielmehr sind die zuständigen Stellen zu einer neuen Entscheidung aufgerufen.

Angedrohte Strafhaft darf nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zählt zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfas­sungs­ordnung, dass angedrohte oder verhängte Strafen nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein dürfen. Von großer Bedeutung sind vor allem mögliche persön­lich­keits­zer­störende Wirkungen der Strafhaft, denen durch einen menschen­würdigen Strafvollzug begegnet werden muss. Dabei mildert jede Hoffnung auf eine möglicherweise vorzeitige Entlassung die mit der Strafhaft verbundenen psychischen Belastungen ab. Gerade im Auslie­fe­rungs­verkehr berücksichtigt das Bundes­ver­fas­sungs­gericht allerdings, dass das Grundgesetz von der Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die Völker­rechts­ordnung der Staaten­ge­mein­schaft ausgeht. Dazu gehört, Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich auch dann zu achten, wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen inner­staat­lichen Auffassungen übereinstimmen. Für die Frage nach dem Vorliegen eines möglichen Auslie­fe­rungs­hin­der­nisses ergibt sich daraus, dass der Schutz eines rechts­s­taat­lichen, von der Achtung der Würde des Menschen bestimmten Kernbereichs im völker­recht­lichen Verkehr nicht identisch sein kann mit den inner­staat­lichen Rechts­auf­fas­sungen. Die unabdingbaren Grundsätze sind deswegen noch nicht verletzt, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfas­sungs­rechts nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte.

Gesamt­be­ur­teilung der Ausgestaltung des jeweiligen Strafvollzugs ist im Einzelfall zu prüfen

Maßgeblich für die Beurteilung der „erschwerten“ lebenslangen Freiheitsstrafe im vorliegenden Fall ist, dass nur bei schweren Gebrechen oder bei einer lebens­be­droh­lichen Erkrankung des Häftlings von einer weiteren Vollstreckung der Strafe bis zum Tod abgesehen werden kann. Dies verletzt unabdingbare Grundsätze der deutschen Verfas­sungs­ordnung jedenfalls dann, wenn - wie hier - auch bei Vorliegen dieser Umstände die Wiedererlangung der Freiheit deswegen ungewiss bleibt, weil der Häftling nur auf den Gnadenweg hoffen kann. Die zu erwartende Strafe nimmt einem Verurteilten jene Hoffnung auf ein späteres selbst­be­stimmtes Leben in Freiheit, die den Vollzug der lebenslangen Strafe nach dem Verständnis der Würde der Person überhaupt erst erträglich macht. Das Oberlan­des­gericht hätte sich daher nicht darauf beschränken dürfen zu prüfen, ob der Beschwer­de­führer eine abstrakte Chance auf Wiedererlangung der Freiheit hat. Vielmehr kommt es in jedem Einzelfall auf eine Gesamt­be­ur­teilung der Ausgestaltung des jeweiligen Strafvollzugs an. Diese Gesamt­be­ur­teilung darf sich nicht der Einsicht verschließen, dass die „erschwerte“ lebenslange Freiheitsstrafe den Verurteilten günstigs­tenfalls darauf hoffen lässt, in Freiheit zu sterben.

Quelle: ra-online, BVerfG

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