21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.03.2007

BVerfG schränkt Strafbarkeit von Autofahrern wegen Unfallflucht ein"Sich-Entfernen" vom Unfallort nur bei Vorsatz strafbar

Wer einen Unfall nicht bemerkt hat und sich vorsatzlos vom Unfallort entfernt, darf nicht gem. § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB bestraft werden. In der Anwendung dieses Straf­tat­be­standes auf "unvorsätzliches Entfernen" vom Unfallort sieht das Bundes­ver­fas­sungs­gericht einen Verstoß gegen das strafrechtliche Analogieverbot. Bisher hatte sich auch strafbar gemacht, wer zunächst weiterfuhr, und später, nachdem er auf den Unfall aufmerksam gemacht wurde, nicht unverzüglich die Feststellung seiner Personalien ermöglichte.

Nach § 142 Abs. 1 des Straf­ge­setz­buches wird ein an einem Verkehrsunfall Beteiligter bestraft, der sich in Kenntnis des Unfalls vom Unfallort entfernt, ohne zuvor den anderen Unfall­be­tei­ligten und Geschädigten die Feststellung seiner Personalien ermöglicht zu haben. Nach § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB wird darüber hinaus auch der Unfall­be­teiligte bestraft, der sich zwar berechtigt oder entschuldigt vom Unfallort entfernt hat, die erforderlichen Feststellungen aber nicht unverzüglich nachträglich ermöglicht. Letztere Tatbe­stand­s­al­ter­native betrifft zum Beispiel den Fall, dass der Unfall­be­teiligte eine verletzte Person ins Krankenhaus bringt.

Im vorliegenden Fall wurde der Beschwer­de­führer vom Amtsgericht Herford wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort verurteilt. Er hatte mit seinem Auto beim verbotswidrigen Überholen auf einem Baustel­le­n­ab­schnitt Rollsplitt aufgewirbelt, wodurch an dem überholten Fahrzeug Schäden in Höhe von knapp 1.900 Euro entstanden. Als der Beschwer­de­führer auf das Gelände einer ca. 500 Meter entfernten Tankstelle einbog, machte ihn der Geschädigte dort auf den Unfall aufmerksam. Der Beschwer­de­führer bestritt den Überholvorgang und entfernte sich, ohne dem Geschädigten die Feststellung seiner Personalien zu ermöglichen. Da dem Beschwer­de­führer nicht nachgewiesen werden konnte, das schadens­ver­ur­sa­chende Ereignis bemerkt zu haben, schied nach Auffassung des Amtsgerichts eine Verurteilung nach § 142 Abs. 1 StGB aus. Das Gericht sah aber die Tatbe­stand­s­al­ter­native des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB als erfüllt an, da das unvorsätzliche Entfernen vom Unfallort – also das Entfernen in Unkenntnis des Unfalls – dem berechtigten oder entschuldigten Entfernen gleichzusetzen sei und der Beschwer­de­führer die erforderlichen Feststellungen nicht nachträglich ermöglicht habe. Mit dieser Rechts­auf­fassung folgte das Gericht einer langjährigen Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs.

Die gegen die Verurteilung gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde war erfolgreich. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellte fest, dass die Erstreckung der Strafbarkeit nach § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB auf Fälle, in denen sich der Unfall­be­teiligte in Unkenntnis des Unfalls vom Unfallort entfernt („unvorsätzliches Entfernen“), gegen das strafrechtliche Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) verstößt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das strafrechtliche Analogieverbot schließt jede Rechtsanwendung aus, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, markiert der mögliche Wortsinn des Gesetzes die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Der Auslegung des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB, die auch das unvorsätzliche – und nicht nur das berechtigte oder entschuldigte – Sich-Entfernt-Haben vom Unfallort unter diese Norm subsumiert, steht die Grenze des möglichen Wortsinns der Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ entgegen. Diese beiden gesetzlichen Begriffe kennzeichnen einen Sachverhalt, der an den in § 142 Abs. 1 StGB beschriebenen anschließt: Wer sich als Unfall­be­tei­ligter an einem Unfallort befindet und also die erforderlichen Feststellungen ermöglichen muss, darf sich unter bestimmten, durch die Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ näher gekenn­zeichneten Voraussetzungen entfernen; er muss dann aber die Feststellungen nachträglich ermöglichen. Über diesen Sinngehalt geht das unvorsätzliche Sich- Entfernt-Haben hinaus. Wer sich „berechtigt oder entschuldigt“ vom Unfallort entfernt, handelt unter ganz anderen Voraussetzungen als derjenige, der das mangels Kenntnis des Unfall­ge­schehens tut.

Dieses Ergebnis wird durch historische Ausle­gungs­ge­sichts­punkte gestützt. Dem Gesetzgeber kam es darauf an, „auch nachträgliche Feststellungen zu ermöglichen, wenn sich ein Beteiligter ausnahmsweise vom Unfallort entfernen durfte“. Der Gesetzgeber begründete dies damit, dass von dem Unfall­be­tei­ligten „ein gewisses Maß an Mitwirkung gefordert werden“ könne, wenn ihm die Rechtsordnung das Sich-Entfernen ermögliche. Eine ausdrückliche und ausnahmsweise Erlaubnis, sich zu entfernen, verträgt sich nicht mit einer Auslegung des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB, die jegliches straflose Sich-Entfernt-Haben unter die Norm fasst.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 35/2007 des BVerfG vom 30. März 2007

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