15.11.2024
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Dokument-Nr. 2959

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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.08.2006

Bundes­ver­fas­sungs­gericht grenzt Möglichkeiten zur nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung einNicht bewältigtes Suchtproblem bedeutet keine erhöhte Gefährlichkeit

Eine nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung kann nur angeordnet werden, wenn vom Betroffenen eine gegenwärtige, erhebliche Gefährdung für die Allgemeinheit ausgeht. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Gegen den betäu­bungs­mit­te­l­ab­hängigen Beschwer­de­führer, der zuletzt eine achtjährige Freiheitsstrafe wegen versuchten Totschlags verbüßt hatte, ordnete das Landgericht gemäß § 66 b Abs. 2 StGB nachträglich die Siche­rungs­ver­wahrung an. Dabei stützte es das Vorliegen neuer Tatsachen darauf, dass der Beschwer­de­führer sich zum Zeitpunkt seiner Verurteilung schuld­ein­sichtig und therapiewillig gezeigt, die in ihn gesetzten Erwartungen des Gerichts aber durch sein im Strafvollzug und im Vollzug der Maßregel gezeigtes Verhalten enttäuscht habe.

Ergänzend zog das Gericht diszi­pli­na­rische Vergehen des Beschwer­de­führers heran, nämlich ein zweimaliges Anbringen von Rasierklingen unter dem Tisch seines Haftraums, das Zu-Boden-Stoßen eines Mitinsassen im Maßregelvollzug, der ihn als "aidskranken Knacki" bezeichnet hatte, und das Einschlagen auf eine Grünpflanze. Der Bundes­ge­richtshof verwarf die gegen die Entscheidung des Landgerichts gerichtete Revision.

Die gegen die straf­ge­richt­lichen Entscheidungen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde war erfolgreich. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die angegriffenen Entscheidungen auf und verwies die Sache zurück an das Landgericht.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die maßgeblichen verfas­sungs­recht­lichen Fragen zur Zulässigkeit der Siche­rungs­ver­wahrung und ihrer nachträglichen Anordnung waren bereits Gegenstand bundes­ver­fas­sungs­ge­richt­licher Entscheidungen. Nach den dort aufgestellten Maßstäben verstößt die gesetzliche Ermächtigung zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB nicht gegen Verfas­sungsrecht. Die enge Begrenzung des Anwen­dungs­be­reichs des § 66 b StGB kann gewährleisten, dass die Maßnahme - wie vom Gesetzgeber beabsichtigt - nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommt und auf einige wenige Verurteilte beschränkt bleibt und somit als verhält­nis­mäßige Regelung verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden ist.

Die straf­ge­richt­lichen Entscheidungen verletzen den Beschwer­de­führer jedoch in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Strafgerichte berücksichtigen nicht, dass eine neue Tatsache i. S. d. § 66 b StGB nicht vorliegt, wenn die Gefährlichkeit sich ausschließlich als Folge der - zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits bekannten - unbewältigten Sucht­pro­blematik darstellt. Wird die Erwartung des Gerichts durch in der Suchterkrankung begründete - und damit dem Gericht grundsätzlich erkennbare - Umstände enttäuscht, so kann das Instrument der nachträglichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung nicht als Korrektiv der unrichtigen Prognose herangezogen werden. Hinsichtlich des Gesichtspunkts einer im Vollzug zutage getretenen Haltung­s­än­derung des Beschwer­de­führers bei der Bewertung seiner Tat stellen die Strafgerichte nicht fest, dass diese Haltung­s­än­derung nach anerkannten und überprüfbaren Maßstäben einen Hinweis auf eine gegenüber dem Zeitpunkt der Verurteilung erhöhte Gefährlichkeit des Beschwer­de­führers darstelle.

Dasselbe gilt für die Tatsachen des Anbringens von Rasierklingen unter dem Haftraumtisch, des Zu-Boden-Stoßens eines Mitgefangenen und des Einschlagens auf eine Grünpflanze. In der Gesamtschau der den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde gelegten neuen Tatsachen zeigt sich, dass die Strafgerichte an die Frage einer im Vollzug zu Tage getretenen erheblichen Gefährlichkeit Maßstäbe des Wohlverhaltens anlegen, die sonst bei der Verhängung diszi­pli­na­rischer Maßnahmen, der Gewährung von Lockerungen und der Straf­re­staus­setzung zur Bewährung herangezogen werden. Die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung folgt nicht diesen Maßstäben, sondern setzt bereits auf der Stufe der Feststellung neuer Tatsachen einen empirisch belastbaren Zusammenhang zwischen den im Vollzug erkennbar gewordenen Tatsachen und einer durch sie zu Tage getretenen erheblichen Gefährlichkeit voraus. Es reicht ferner verfas­sungs­rechtlich nicht aus, eine hohe Wahrschein­lichkeit der Begehung künftiger erheblicher Straftaten bereits dann anzunehmen, wenn überwiegende Umstände auf eine künftige Delinquenz des Betroffenen hindeuten. Erforderlich ist die Feststellung einer gegenwärtigen erheblichen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit. Bloße Erwägungen zur Rückfa­ll­wahr­schein­lichkeit genügen dem nicht, zumal, wenn sie - wie vorliegend - nicht den Gesichtspunkt der Rückfa­ll­ge­schwin­digkeit in den Blick nehmen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 78/06 des BVerfG vom 05.09.2006

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