18.10.2024
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Dokument-Nr. 3235

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Beschluss19.09.2006Bundesverfassungsgericht2 BvR 2115/01; 2 BvR 2132/01; 2 BvR 348/03
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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.09.2006

Ausländische Beschuldigte müssen über ihr Recht auf konsularische Unterstützung aufgeklärt werdenUnterlassene Belehrung verletzt Recht auf faires Verfahren

Ein Ausländer muss bei seiner Festnahme unverzüglich über sein Recht informiert werden, dass er die konsularische Vertretung seines Landes von der Festnahme benachrichtigen kann. Unterbleibt eine solche Belehrung, die nach dem "Wiener Konsu­lar­rechts­über­ein­kommen" erforderlich ist, ist das Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechts­s­taats­prinzip) verletzt. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b des Wiener Konsu­lar­rechts­über­ein­kommens (WÜK), dem auch die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, ist ein festgenommener Ausländer unverzüglich über sein Recht zu belehren, die konsularische Vertretung seines Landes von der Festnahme benachrichtigen zu lassen. Diese Vorschrift war vor allem in den LaGrand- und Avena- Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof von Bedeutung: Im Januar 1982 überfielen die damals 18 und 19 Jahre alten Brüder Walter und Karl LaGrand im Bundesstaat Arizona gemeinsam eine Bank und erschossen dabei einen Menschen. Sie wurden 1984 von dem zuständigen Gericht Arizonas zum Tode verurteilt. Obwohl die beiden Brüder die deutsche Staats­an­ge­hö­rigkeit besaßen, wurden sie nicht über ihr Recht nach Art. 36 WÜK belehrt. Die Brüder wurden nach erfolglosen Rechts­mit­tel­ver­fahren und Gnadengesuchen im Frühjahr des Jahres 1999 hingerichtet. Auf Klage der Bundesrepublik Deutschland gegen die USA entschied der Internationale Gerichtshof im Jahre 2001, dass die USA mangels Belehrung der Brüder gegen Art. 36 Abs. 1 WÜK verstoßen hätten. Art. 36 WÜK begründe auch Rechte des Einzelnen, die dem Empfangsstaat unmittelbar gegenüber festgehaltenen Personen oblägen. In einem von Mexiko gegen die USA angestrengten Verfahren, dem eine ähnliche Konstellation zugrunde lag, unterstrich der Internationale Gerichtshof erneut den (auch) subjektiv-rechtlichen Charakter der aus Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b WÜK folgenden Rechtspflichten (Avena-Entscheidung). Die USA seien verpflichtet, in den betroffenen Fällen die Möglichkeit einer Nachprüfung vor staatlichen Gerichten zu gewährleisten. Die Beschwer­de­führer, darunter zwei türkische Staats­an­ge­hörige, sind wegen Tötungsdelikten zu – teilweise lebenslangen – Freiheits­s­trafen verurteilt worden. Ihre Überzeugung von der Schuld der Beschwer­de­führer stützten die Gerichte unter anderem auf die Angaben der türkischen Beschuldigten, die diese bei ihrer polizeilichen Vernehmung anlässlich ihrer Festnahme gemacht hatten. In den Revisi­ons­ver­fahren vor dem Bundes­ge­richtshof machten die Beschwer­de­führer geltend, dass die türkischen Staats­an­ge­hörigen bei ihrer Festnahme durch die Polizei nach Art. 36 WÜK hätten belehrt werden müssen. Der Verstoß gegen die Norm habe hinsichtlich deren Angaben ein Verwer­tungs­verbot zur Folge. Der Bundes­ge­richtshof verwarf die Revisionen als unbegründet. Art. 36 Abs. 1 WÜK schütze den unmittelbar von einer Festnahme Betroffenen nicht vor eigenen unbedachten Aussagen, die dieser vor der entsprechenden Belehrung über seine diesbezüglichen Rechte gemacht habe.

Die hiergegen gerichteten Verfas­sungs­be­schwerden hatten Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob die angegriffenen Beschlüsse des Bundes­ge­richtshofs auf, da sie die Beschwer­de­führer in ihrem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechts­s­taats­prinzip) verletzten. Obwohl der Bundes­ge­richtshof von Verfassungs wegen verpflichtet gewesen sei, die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs zum Konsu­lar­rechts­über­ein­kommen zu berücksichtigen, habe er Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK in einer Weise ausgelegt, die derjenigen des Internationalen Gerichtshofs widerspreche. Die Sachen wurden an den Bundes­ge­richtshof zurückverwiesen. Dieser muss nun klären, welche Folgen sich aus dem Verfas­sungs­verstoß für die straf­recht­lichen Verfahren ergeben.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen völker­rechtliche Verträge wie das Konsu­lar­rechts­über­ein­kommen, denen die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, im Range eines Bundesgesetzes (vgl. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Fachgerichte sind daher verpflichtet, Art. 36 WÜK ebenso wie das nationale Straf­pro­zessrecht anzuwenden und auszulegen. Bei der Auslegung von Art. 36 WÜK haben sie die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs zum Konsu­lar­rechts­über­ein­kommen zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Völker­rechts­freund­lichkeit des Grundgesetzes in Verbindung mit der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, welche die Entscheidungen eines völkerrechtlich ins Leben gerufenen internationalen Gerichts nach Maßgabe des Inhalts des inkorporierten völker­recht­lichen Vertrags umfasst.

Dabei ist die Berück­sich­ti­gungs­pflicht nicht auf die unter deutscher Beteiligung entschiedenen Einzelfälle begrenzt. Vielmehr muss der Auslegung eines völker­recht­lichen Vertrags durch den Internationalen Gerichtshof über den entschiedenen Einzelfall hinaus eine normative Leitfunktion beigemessen werden, an der sich die Vertrags­parteien zu orientieren haben. Voraussetzung hierfür ist, dass die Bundesrepublik Deutschland Partei des einschlägigen, die in Rede stehenden materiell-rechtlichen Vorgaben enthaltenen völker­recht­lichen Vertrags ist und sich – sei es wie im vorliegenden Fall durch das Fakul­ta­tiv­pro­tokoll zum Konsu­lar­rechts­über­ein­kommen, sei es durch einseitige Erklärung – der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterworfen hat.

2. Der Bundes­ge­richtshof hat Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK in den angegriffenen Beschlüssen in einer Weise ausgelegt, die derjenigen des Internationalen Gerichtshofs widerspricht. Anders als der Bundes­ge­richtshof kam dieser zu dem Ergebnis, dass Art. 36 Abs. 1 WÜK ein subjektives Recht auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Vertei­di­gungs­rechte einräume. Zweck der Belehrung sei es, dass der Einzelne in den Genuss der Unterstützung seines Heimatstaats kommen könne. Eine Verletzung dieses Rechts ziehe die Revisibilität des Strafurteils nach sich.

Vor diesem Hintergrund ist von einer Konven­ti­o­ns­ver­letzung immer dann auszugehen, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Einzelne ein bestimmtes prozessuales Recht wie die Aussagefreiheit aufgrund der fehlenden konsularischen Unterstützung nicht in vollem Umfang wahrnehmen konnte, und dies nicht revisibel ist. Daraus folgt allerdings nicht, dass im Falle eines Beleh­rungs­fehlers nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK zwingend von der Unver­wert­barkeit der zustande gekommenen Bewei­s­er­gebnisse auszugehen ist.

3. Die sich aus dem Verstoß gegen die Berück­sich­ti­gungs­pflicht ergebenden Rechtsfolgen sind verfas­sungs­rechtlich nicht festgelegt. Soweit der Bundes­ge­richtshof im Rahmen der erneut auf Grundlage der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs vorzunehmenden Auslegung von Art. 36 WÜK zu dem Ergebnis gelangt, dass die schwur­ge­richt­lichen Urteile verfah­rens­feh­lerhaft zustande gekommen sind, ist es seine Aufgabe, die sich aus diesem Verfah­rens­fehler ergebenden Konsequenzen festzustellen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 99/2006 des BVerfG vom 25.10.2006

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