15.11.2024
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Dokument-Nr. 1860

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Bundesverfassungsgericht Beschluss01.02.2006

Vollzug des Haftbefehls gegen El Motassadeq muss überprüft werden

Die Verfas­sungs­be­schwerde des wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilten Beschwer­de­führers gegen den Widerruf des Haftver­scho­nungs­be­schlusses war erfolgreich. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die angegriffenen Entscheidungen des Oberlan­des­ge­richts und des Bundes­ge­richtshofs auf, da sie den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht verletzten.

Der Umstand allein, dass nach der Haftverschonung ein (noch nicht rechtskräftiges) Urteil ergangen ist oder ein hoher Strafantrag der Staats­an­walt­schaft gestellt wurde, genüge nicht für den Widerruf einer ursprünglich gewährten Haftverschonung.

Die Sache wurde zu erneuter Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen. Dieses hat unter Beachtung des vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht dargelegten Maßstabes erneut über die Frage der Haftverschonung zu entscheiden. Liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Haftverschonung nicht vor, wovon nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auszugehen ist, muss der Beschwer­de­führer unverzüglich aus der Unter­su­chungshaft entlassen werden.

Dem Beschwer­de­führer liegt die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie Beihilfe zum Mord in über 3000 Fällen anlässlich der Anschläge in den USA vom 11. September 2001 zur Last. Er wurde deshalb vom Oberlan­des­gericht im Februar 2003 zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Auf seine Revision hin hob der Bundes­ge­richtshof das Urteil im März 2004 auf und verwies die Sache an das Oberlan­des­gericht zurück. Das Oberlan­des­gericht änderte im April 2004 den gegen den Beschwer­de­führer bestehenden Haftbefehl dahingehend ab, dass dringender Tatverdacht nur noch hinsichtlich des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bestehe.

Gleichzeitig wurde der Beschwer­de­führer unter Auflagen vom weiteren Vollzug der Unter­su­chungshaft verschont und kam auf freien Fuß. Im August 2005 verurteilte das Oberlan­des­gericht den Beschwer­de­führer wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Gleichzeitig hob es den Verscho­nungs­be­schluss auf und setzte den Haftbefehl erneut in Vollzug. Mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren sei ein neuer Umstand eingetreten, der die Verhaftung erforderlich mache. Gegen das Urteil hatten sowohl der Beschwer­de­führer als auch die Bundes­an­walt­schaft und die Nebenkläger Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden ist.

Das Begehren des Beschwer­de­führers, erneut vom Vollzug der Unter­su­chungshaft verschont zu werden, blieb sowohl vor dem Oberlan­des­gericht als auch vor dem Bundes­ge­richtshof erfolglos. Die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg.

Nach der Straf­pro­zess­ordnung darf die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nur dann widerrufen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurtei­lungs­grundlage zur Zeit der Gewährung der Haftverschonung geändert haben. Dieses Gebot gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert und mit grund­recht­lichem Schutz versieht.

Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staats­an­walt­schaft können im Einzelfall zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung oder die Involl­zug­setzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass die später vom Tatrichter verhängte oder die von der Staats­an­walt­schaft beantragte Strafe von der Prognose des Haftrichters erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. War dagegen zum Zeitpunkt der Außer­voll­zug­setzung des Haftbefehls mit der später ausgesprochenen – auch höheren – Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, darf die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte Angeklagte infolge des Schlussantrages der Staats­an­walt­schaft oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern ihm die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs während der Außer­voll­zug­setzung des Haftbefehls stets vor Augen stand und er gleichwohl allen Auflagen beanstan­dungsfrei nachkam. Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verscho­nungs­be­schlusses gesetzte Vertrau­en­s­tat­bestand als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch.

Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Das Oberlan­des­gericht hat einseitig auf die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von sieben Jahren bzw. die von der Staats­an­walt­schaft beantragte Freiheitsstrafe von 15 Jahren abgestellt, ohne darzulegen, warum der Strafausspruch zum Nachteil des Beschwer­de­führers erheblich von der bisherigen Straferwartung abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht hat. Vor allem aber hat das Oberlan­des­gericht nicht berücksichtigt, dass der Beschwer­de­führer durch das Befolgen der ihm erteilten Auflagen einen Vertrau­en­s­tat­bestand geschaffen hat und hierin grundsätzlich schutzwürdig ist. Auch der Bundes­ge­richtshof hat dem Umstand, dass sich der Beschwer­de­führer dem Verfahren in Kenntnis der von der Bundes­an­walt­schaft geforderten Verhängung einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren weiterhin gestellt und den erteilten Auflagen beanstan­dungsfrei nachgekommen ist, zu Unrecht keine Bedeutung beigemessen.

Daher hat das Oberlan­des­gericht unter Beachtung des dargelegten Maßstabes erneut über die Frage der Haftverschonung zu entscheiden. Liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Haftverschonung nicht vor, wovon nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auszugehen ist, muss der Beschwer­de­führer unverzüglich aus der Unter­su­chungshaft entlassen werden.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 20/06 des BVerfG vom 07.02.2006

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