21.11.2024
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Dokument-Nr. 3705

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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.12.2006

Andauernde Kindes­ent­ziehung - eine zweite strafrechtliche Verurteilung wegen Kindes­ent­ziehung ist nicht ohne weiteres möglichVerurteilung darf nicht von Zufälligkeiten und der Geschwindigkeit der Strafverfolgung abhängen

Ein einmal wegen Kindes­ent­ziehung verurteilter Vater kann nicht ohne weiteres ein zweites Mal wegen noch fortwährender Kindes­ent­ziehung verurteilt werden, weil er sich beharrlich weigert, die Voraussetzungen für eine Rückführung des Kindes zur allein sorge­be­rech­tigten Mutter zu schaffen. Im Fall weigerte ein Vater sich, eine Einver­ständ­ni­s­er­klärung zur Ausreise des Kindes aus Algerien abzugeben. Das Strafgericht müsse in diesen Fällen eingehend prüfen, ob der Vater erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht habe. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Der Beschwer­de­führer ist Vater einer im Jahre 1995 geborenen Tochter. Das Aufent­halts­be­stim­mungsrecht für das Kind wurde der Mutter, seiner früheren Ehefrau, übertragen. Im Jahr 2001 reiste das Mädchen mit dem Einverständnis seiner Mutter zu Verwandten des Beschwer­de­führers nach Algerien, wo sie sich seither aufhält. Alle Versuche der Mutter, ihre Tochter wieder nach Deutschland zu holen, scheiterten daran, dass für die Ausreise nach algerischem Recht ein notariell beurkundetes Einverständnis des Vaters notwendig ist. Dieses hat der Beschwer­de­führer von Anfang an verweigert. Infolge dieser Weigerung wurde er zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Auch nach Rechtskraft dieser Verurteilung weigerte sich der Beschwer­de­führer, das Einverständnis zu erteilen. Daraufhin wurde er erneut wegen Kindes­ent­ziehung zu einer weiteren Freiheitsstrafe von nunmehr drei Jahren verurteilt. Dabei nahm das Gericht an, die erste Verurteilung entfalte Zäsurwirkung im Hinblick auf das Dauerdelikt der Kindes­ent­ziehung, so dass es sich bei der nach der ersten Verurteilung weiter verweigerten Zustim­mungs­er­klärung des Beschwer­de­führers zur Ausreise seines Kindes aus Algerien um eine neue Tat der Kindes­ent­ziehung handele.

Die gegen seine zweite straf­ge­richtliche Verurteilung gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde des Beschwer­de­führers hatte Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob das Urteil des Landgerichts auf, da die zweite Verurteilung des Beschwer­de­führers, die an die Nichtabgabe der notariellen Zustim­mungs­er­klärung zur Ausreise seiner Tochter anknüpft, in mehrfacher Hinsicht das Schuldprinzip verletze.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Gericht hat sich nicht mit der Frage ausein­an­der­gesetzt, ob der Beschwer­de­führer durch das weitere Unterlassen der Abgabe der notariellen Zustim­mungs­er­klärung überhaupt erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht hat. Es hat nicht geprüft, ob der Beschwer­de­führer angesichts der Einmaligkeit der von ihm geforderten Leistung – Abgabe der notariellen Zustim­mungs­er­klärung zur Ausreise seiner Tochter – durch die bloße Fortsetzung seines Nichthandelns ein erneut rechtlich verbotenes Verhalten gezeigt hat, das eigenständiger Sanktionierung zugänglich ist.

Das Gericht hat – sollte der Beschwer­de­führer erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht haben – auch nicht den Schuldumfang der von ihm angenommenen zweiten im Verhältnis zur ersten Tat erörtert. Dass der Staat durch einen bloßen nicht näher begründeten Verweis auf die dogmatische Figur der „Zäsurwirkung“ einer voraus­ge­gangenen Verurteilung selbst die Voraussetzungen für die Verurteilung wegen einer vermeintlich neuen Tat schafft, stellt einen offen­sicht­lichen Verstoß gegen das Schuldprinzip dar: Nicht die individuelle Schuld ist in einem solchen Falle Grund der Bestrafung und Grundlage der Strafzumessung, sondern die von Zufälligkeiten abhängige Geschwindigkeit der Strafverfolgung, die zur Konstruktion von Zäsurwirkungen führt. Die Strafbarkeit hängt nicht von den abstrakt-generellen Normen des Strafrechts, sondern von der konkreten Organisation der Gerichte ab, die die Voraussetzungen der Strafbarkeit selbst gestalten. Eine solche Rechtsanwendung birgt die Gefahr, den Beschuldigten als bloßes Objekt der Straf­ver­fol­gungs­be­hörden zu behandeln.

Selbst bei Annahme einer neuen schuldhaft verwirklichten Tat hätte das Gericht sich damit ausein­an­der­setzen müssen, ob eine erneute Verurteilung sich nicht von der Bestimmung der Strafe löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Einer vom individuellen Schuldgehalt der Tat absehenden Verurteilung des Beschwer­de­führers käme lediglich eine mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbarende Beugewirkung zu. Der Beschwer­de­führer wird dann nicht entsprechend dem Maß seiner individuellen Schuld, sondern wegen seines gegenüber den Straf­ver­fol­gungs­be­hörden gezeigten Ungehorsams mit Strafen belegt, deren Ende nicht absehbar ist. Ungehorsam ist einem rechts­s­taat­lichen Strafrecht als Strafgrund fremd.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 07/07 des BVerfG vom 25.01.2007

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