15.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.10.2006

Besuchszeiten für Familien­an­ge­hörige eines Unter­su­chungs­ge­fangenenKleinkind benötigt nicht weniger Kontakt­mög­lich­keiten zum Vater als ältere Familien­an­ge­hörige

Ein nichtehelicher Vater muss auch in der Unter­su­chungshaft die Möglichkeit haben, zu seinem (Klein-)Kind (hier: 8 Monate) eine Beziehung aufbauen zu können. Die Häufigkeit von Besuchs­mög­lich­keiten darf nicht vom Alter des Kindes abhängig gemacht werden. Eine Besuch­s­er­laubnis von Mutter und Tochter, die nur zweiwöchentlich zu einem Besuch von nur 30 Minuten berechtigt, ist verfas­sungs­widrig und verletzt den Vater in seinen Grundrechten.

Der Beschwer­de­führer, der sich in Unter­su­chungshaft befindet, ist Vater einer im Februar 2006 geborenen nichtehelichen Tochter. Mutter und Kind nehmen regelmäßig gemeinsam eine Besuch­s­er­laubnis in der Justiz­voll­zugs­anstalt wahr, die zweiwöchentlich zu einem Besuch von 30 Minuten Dauer berechtigt. Für Ehepartner von Unter­su­chungs­ge­fangenen sind in der Anstalt im Hinblick auf den besonderen Schutz von Ehe und Familie Besuchs­mög­lich­keiten von bis zu einer Stunde pro Woche vorgesehen; im Regelfall wird eine halbe Stunde pro Woche gewährt. Ein Antrag des Vaters und des Kindes, die Besuch­s­er­laubnis auf wöchentliche Besuche von einstündiger Dauer auszudehnen, wurde abgelehnt. Die seit langem bestehende Überbelegung der Anstalt lasse dies nicht zu. Da der Beschwer­de­führer ledig sei, sei die anstaltliche Regelung für Eheleute auf ihn nicht anwendbar. Das Oberlan­des­gericht verwarf die hiergegen gerichtete Beschwerde. Den Anforderungen des Schutzes von Ehe und Familie sei genügt. Zu berücksichtigen sei, dass es sich bei der Beschwer­de­führerin zu 2. um ein Kleinkind in den ersten Lebensmonaten mit altersgemäß noch sehr geringen Inter­ak­ti­o­ns­mög­lich­keiten handele. Im Vordergrund stehe daher vorerst der Aufbau einer emotionalen Bindung, während die bei einem größeren Kind unter Umständen anzunehmende Gefahr emotionaler Trennungs­verluste und tiefgreifender Entfremdung in dieser Weise noch nicht bestehe. Ein Bedarf für der Erörterung und Regelung familiärer Probleme zwischen den Beschwer­de­führern - der nach der Unter­su­chungs­haft­voll­zugs­ordnung eine Ausnahme von den Regel­be­suchs­zeiten erfordern kann - komme aufgrund des Alters der Beschwer­de­führerin zu 2. nicht in Betracht.

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob den angegriffenen Beschluss des Oberlan­des­ge­richts auf, da er Vater und Kind in ihren Grundrechten aus Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleich­heits­grundsatz) und den Vater darüber hinaus in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (Elternrecht) verletze. Die Sache wurde an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Der Beschluss lässt bereits nicht erkennen, aus welchen Quellen sich die Annahme des Gerichts speist, für den Aufbau der Beziehung zwischen einem Elternteil und einem Kind in den ersten Lebensmonaten bedürfe es geringerer Kontakt­mög­lich­keiten als für die Vermeidung einer Entfremdung im Verhältnis zu älteren Familien­an­ge­hörigen. Angesichts einschlägiger, großenteils auch bereits in das Allgemeinwissen übergegangener entwick­lungs­psy­cho­lo­gischer Erkenntnisse über die Frühentwicklung des Kindes hätte dies näherer Begründung bedurft. Auch mit der allge­mein­kundigen Tatsache, dass Kinder in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres häufig eine ausgeprägte Scheu vor nicht hinreichend vertrauten Personen entwickeln, und der sich aufdrängenden Frage, welche Bedeutung der beantragten Erweiterung der Besuchs­mög­lichkeit vor dem Hintergrund zukommt, hat das Gericht sich nicht ausein­an­der­gesetzt. Ebensowenig ist es auf den Umstand eingegangen, dass Eheleuten in der Regel auch die Möglichkeit schriftlicher oder fernmündlicher Kommunikation offensteht, während es für eine dem Aufbau einer Bindung zwischen den Beschwer­de­führern zwingend des unmittelbaren Kontakts bedarf.

Die vom Oberlan­des­gericht aus der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zutreffend wiedergegebene Feststellung, dass die Entwicklung eines Kindes nicht nur durch quanti­fi­zierbare Betreu­ungs­beiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Ausein­an­der­setzung geprägt wird, wäre grundlegend missverstanden, wenn sie dahin gedeutet würde, dass sie die Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Bezug auf die Möglichkeit des Kontakts zwischen Eltern und Kindern relativiert, soweit es dabei um quantitative Fragen wie die Dauer der zuzugestehenden Besuchs­mög­lich­keiten geht. Ebensowenig folgt aus dieser Feststellung, dass der grundrechtliche Schutz dieses Kontakts von geringerem Gewicht wäre, soweit er Kinder betrifft, mit denen eine geistige Ausein­an­der­setzung noch nicht möglich ist.

Der Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts ist auch keine sachliche Rechtfertigung dafür zu entnehmen, dass den Beschwer­de­führern eine Ausdehnung der Besuchszeit nicht gewährt wird, während die Anstalt Eheleuten eine Erweiterung der Besuchs­mög­lich­keiten auf bis zu einer Stunde pro Woche zugesteht. Die angegriffene Entscheidung verletzt daher auch Art. 3 Abs. 1 GG, der vor sachlich nicht gerecht­fer­tigten Diffe­ren­zie­rungen schützt.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 106/06 des BVerfG vom 03.11.2006

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