15.11.2024
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Dokument-Nr. 3258

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Bundesverfassungsgericht Beschluss20.10.2006

Verfas­sungs­be­schwerde gegen Haftfort­dau­e­r­be­schluss erneut erfolgreichBeschleu­ni­gungsgebot wurde nicht hinreichend beachtet

Dem Staat ist es zuzurechnen, wenn Richter wegen Befangenheit abgelehnt werden. Eine daraus entstehende Verzögerung ist kein wichtiger Grund, der die Fortdauer der Haft rechtfertigt. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Damit hatten die Verfas­sungs­be­schwerden von vier Angeklagten Erfolg, die wegen bandenmäßigem Drogenhandel seit knapp zwei Jahren in Unter­su­chungshaft sitzen.

Die vier Beschwer­de­führer befinden sich wegen des Verdachts des bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäu­bungs­mitteln seit November 2004 bzw. seit April 2005 in Unter­su­chungshaft. Nachdem die Staats­an­walt­schaft gegen die insgesamt zwölf Beschuldigten Anklage erhoben hatte, fand die Haupt­ver­handlung vor dem Landgericht zunächst von März bis Mai 2006 statt. Im Juni 2006 setzte das Landgericht die Haupt­ver­handlung aus, nachdem zwei Richter der Strafkammer erfolgreich wegen des Vorwurfs der Befangenheit abgelehnt worden waren. Das Präsidium des Landgerichts löste in der Folgezeit die für das Verfahren gegen die Beschwer­de­führer zuständige Strafkammer auf und wies das Verfahren einer anderen Strafkammer zu. Die neuen Haupt­ver­hand­lungs­termine sind für die Monate Oktober 2006 bis Februar 2007 vorgesehen. Im Rahmen der Haftprüfung nach § 121 Abs. 1 StPO ordnete das Kammergericht die Fortdauer der Unter­su­chungshaft an. Wichtige Gründe hätten ein Urteil noch nicht zugelassen.

Die gegen den Haftfort­dau­e­r­be­schluss gerichteten Verfas­sungs­be­schwerden hatten Erfolg. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellte fest, dass der Beschluss des Kammergerichts die Beschwer­de­führer in ihrem Freiheits­grundrecht verletze, da dem in Haftsachen geltenden Beschleu­ni­gungsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen worden sei. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Nach § 121 Abs. 1 StPO darf, solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheits­ent­ziehende Maßnahme erkennt, der Vollzug der Unter­su­chungshaft über sechs Monate hinaus nur aufrecht­er­halten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die vom Kammergericht getroffenen Feststellungen tragen die Annahme eines wichtigen Grundes nicht.

Das Kammergericht hat ausgeführt, dass sich das Verfahren wegen der Notwendigkeit der erneuten Durchführung der Haupt­ver­handlung unter Berück­sich­tigung der bisherigen Terminierung voraussichtlich um mehr als sechs Monate verlängern werde. Dabei hat das Kammergericht zutreffend festgestellt, dass diese erhebliche Verfah­rens­ver­zö­gerung vermeidbar und dem Staat zuzurechnen sei. Soweit das Kammergericht jedoch von einem als eher leicht zu bewertenden Fehlverhalten der beiden für befangen erklärten Richter ausgeht und annimmt, dass dieses neben dem Erfordernis der Einarbeitung der nunmehr zuständigen Strafkammer in den umfangreichen Verfahrensstoff gleichwohl noch die Fortdauer der Unter­su­chungshaft rechtfertige, erweist sich dies als nicht haltbar. Mit der Vornahme einer Verschul­den­s­prüfung im Rahmen der Prüfung eines wichtigen Grundes im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO stellt sich das Kammergericht in Widerspruch zu seiner eigenen Prämisse, die auf der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts beruht, wonach es für die Zurechnung der Verfah­rens­ver­zö­gerung zu der Sphäre des Staates nicht auf ein Verschulden ankommt. Ob bereits jede dem Staat zurechenbare Verfah­rens­ver­zö­gerung gegen das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO spricht, bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls kann eine erhebliche objektive Pflicht­wid­rigkeit eines Gerichtes nicht als wichtiger Grund angesehen werden. So liegt der Fall hier. Die Annahme des Kammergerichts, es liege in Bezug auf die Befangenheit der Berufsrichter, die letztlich zur Aussetzung der Haupt­ver­handlung führte, nur ein leichter Verfah­rens­fehler vor, wird von Art und Umfang der getroffenen Feststellungen nicht getragen.

In tatsächlicher Hinsicht schöpft das Kammergericht nicht den Inhalt des Beschlusses des Landgerichts Berlin aus, mit dem die Ableh­nungs­gesuche gegen die beiden Berufsrichter für begründet erklärt wurden. Das Landgericht hat nur einen Mindest­tat­bestand festgestellt, der bereits einen Befan­gen­heitsgrund trägt. Ausweislich der Gründe gehen jedoch die anwaltlichen Versicherungen in ihrem Vorwurf, die Richter hätten einen unzulässigen Druck auf zwei Angeklagte zur Herbeiführung einer Verfah­rens­ab­sprache ausgeübt, noch weiter. Hinzukommt, dass in diese Richtung auch eine eidesstattliche Versicherung eines Stati­o­ns­re­fe­rendars weist. Eine Aufklärung der diesbezüglichen Vorgänge ist lediglich mangels Entschei­dungs­er­heb­lichkeit unterblieben. Vor diesem Hintergrund aber kann auf der Ebene der Prüfung des Grades der Vorwerfbarkeit des Verfah­rens­ver­stoßes nicht schlicht auf das festgestellte Minimum der Vorgänge, die bereits zu einer Besorgnis der Befangenheit führe, zurückgegriffen werden. Vielmehr hätte dann in eine umfassende Bewertung der Gesamtlage eingetreten werden müssen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 101/06 des BVerfG vom 27.10.2006

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