14.11.2024
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Dokument-Nr. 1424

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Bundesverfassungsgericht Beschluss29.11.2005

Aufrecht­er­haltung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls bei ungewissem Verfah­rens­fortgang mit Freiheits­grundrecht unvereinbar

Die Verfas­sungs­be­schwerde eines Angeklagten, dessen Haupt­ver­handlung wegen des gesetzlichen Mutterschutzes der beisitzenden Richterin auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurde, gegen die Aufrecht­er­haltung des (bereits außer Vollzug gesetzten) Haftbefehls war erfolgreich.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte fest, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht verletzt. Lassen sich Strafverfahren, in denen ein Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist, nicht in angemessener Zeit durchführen, weil der Staat der Pflicht zur Ausstattung der Gerichte – vor allem in personeller Hinsicht – nicht nachkommt, habe das unabweisbar die Aufhebung von Haftent­schei­dungen zur Folge. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen.

Sachverhalt:

Der Beschwer­de­führer ist wegen gewerbsmäßiger Hehlerei und gewerbsmäßiger Veranstaltung unerlaubter Glücksspiele angeklagt. Er befand sich deshalb seit September 2003 in Unter­su­chungshaft. Nach Beginn der Haupt­ver­handlung im September 2004 setzte das Landgericht den Haftbefehl gegen eine Sicher­heits­leistung in Höhe von 200.000 Euro sowie gegen eine Meldeauflage außer Vollzug. Der Beschwer­de­führer kam auf freien Fuß. Nach 44 Verhand­lungstagen setzte das Landgericht die Haupt­ver­handlung gegen den Beschwer­de­führer unter gleichzeitiger Aufhebung des Haftbefehls und des Haftver­scho­nungs­be­schlusses im Juni 2005 auf unbestimmte Zeit aus, da das Verfahren bis zum Beginn des gesetzlichen Mutterschutzes der beisitzenden Richterin nicht mehr zu Ende geführt werden könne.

Auf die Beschwerde der Staats­an­walt­schaft setzte das Oberlan­des­gericht den Haftbefehl und den Verscho­nungs­be­schluss im September 2005 mit der Maßgabe wieder in Kraft, dass die Meldeauflage entfalle. Die Aussetzung des Verfahrens beruhe nicht auf einer Missachtung des Beschleu­ni­gungs­gebots, sondern auf der sachlich nicht zu beanstandenden Erwägung, dass das Verfahren bis zu dem bevorstehenden Beginn des Mutterschutzes der Beisitzerin nicht mehr habe beendet werden können. Die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Bei der Prüfung der Frage, ob ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl aufrecht­zu­er­halten ist, ist – ebenso wie beim vollstreckten Haftbefehl – eine Abwägung zwischen dem staatlichen Straf­ver­fol­gungs­an­spruch und dem Freiheits­in­teresse des Beschwer­de­führers vorzunehmen. Denn auch wenn die Unter­su­chungshaft nicht vollzogen wird, kann allein schon die Existenz eines Haftbefehls für den Beschuldigten eine erhebliche Belastung darstellen. Das Oberlan­des­gericht hat in die erforderliche Abwägung nicht alle relevanten Gesichtspunkte einbezogen sowie Bedeutung und Tragweite des Freiheits­an­spruchs des Beschwer­de­führers verkannt.

So hat das Oberlan­des­gericht die Hintergründe der Ausset­zungs­ent­scheidung nicht aufgeklärt. Es hat nicht festgestellt, warum der Einsatz eines Ergän­zungs­richters nicht in Betracht kam und weshalb der Abbruch der Haupt­ver­handlung – nach immerhin 44 Verhand­lungstagen – unumgänglich war und auch durch einen überob­li­ga­ti­o­ns­mäßigen Einsatz der Richterbank, etwa durch zusätzliche Verhand­lungs­termine in den Abendstunden oder gegebenenfalls auch am Wochenende (samstags), vor dem Eintritt der Beisitzerin in den Mutterschutz nicht mehr vermieden werden konnte. Der inhaftierte Beschuldigte hat es nicht zu vertreten, wenn seine Strafsache nicht binnen angemessener Frist zum Abschluss gebracht werden kann, weil familiär bedingte personelle Veränderungen auf der Richterbank mit einer ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäfts­anfalls in Haftsachen kollidieren. Es handelt sich insoweit weder um einen unvor­her­sehbaren Zufall noch um ein schicksalhaftes Ereignis. Jede andere Beurteilung ist mit der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit unvereinbar. Dies gilt auf Grund der mit der Existenz des Haftbefehls verbundenen Belastungen und Beschränkungen der persönlichen Freiheit auch dann, wenn der Haftbefehl wie hier – bereits außer Vollzug gesetzt ist.

Zudem besteht für die Einschätzung des Oberlan­des­ge­richts, das Verfahren gegen den Beschwer­de­führer werde im Februar 2006 neu beginnen, keine tragfähige Grundlage. Der Vorsitzende der für die Haupt­ver­handlung zuständigen Strafkammer hat in seiner Stellungnahme lediglich erklärt, dass derzeit nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Sache vor Februar 2006 verhandelt werden könne. Von einem Verfah­rens­beginn im Februar 2006 ist in der Stellungnahme nicht die Rede. Zudem hat der Vorsitzende seine Aussage ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt, dass keine neuen Haftsachen bei der Kammer eingehen. Da die Kammer nach der Mitteilung des Präsidenten des Landgerichts jedoch nicht mit einer Entlastung rechnen kann, besteht kein Grund für die Annahme, die Kammer werde vom Eingang neuer Haftsachen verschont bleiben. Sind aber Beginn, Dauer und Beendigung des Verfahrens gegenwärtig in keiner Weise zeitlich konkret absehbar, so ist dies bei der gebotenen Abwägung nicht mehr hinnehmbar und muss zur Aufhebung des Haftbefehls und des Ausset­zungs­be­schlusses führen. Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verant­wor­tungs­bereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Der Staat kann sich dem Beschuldigten gegenüber nicht darauf berufen, dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen. Lassen sich Strafverfahren, in denen ein Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist, nicht in angemessener Zeit durchführen, weil der Staat der Pflicht zur Ausstattung der Gerichte – aus welchen Gründen auch immer – nicht nachkommt, hat das unabweisbar die Aufhebung von Haftent­schei­dungen zur Folge. Die mit der Haftprüfung betrauten Gerichte verfehlen die ihnen obliegende Aufgabe, den Grund­rechts­schutz der Betroffenen zu verwirklichen, wenn sie angesichts des Versagens des Staates, die Justiz mit den erforderlichen personellen und sächlichen Mitteln auszustatten, die im Falle einer Verletzung des Beschleu­ni­gungs­gebots gebotenen Konsequenzen nicht ziehen.

Die Aufhebung allein der Meldeauflage trägt dem Freiheits­an­spruch des Beschwer­de­führers nicht hinreichend Rechnung. Denn schon die Existenz des Haftbefehls begründet neben der Beschränkung der Freizügigkeit und den mit der Stellung der Kaution verbundenen finanziellen Nachteile eine erhebliche Belastung, die dem Beschwer­de­führer angesichts der völligen Ungewissheit des Verfah­rens­fortgangs nicht weiter zugemutet werden kann.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 120/05 des BVerfG vom 08.12.2005

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