18.10.2024
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Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 32692

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.01.2023

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerde eines Sicherungs­verwahrten gegen die mehrtägige Fesselung während eines Kranken­haus­aufenthaltsMehrtägige Fesselung von Siche­rungs­ver­wahrtem in Krankenhaus verfas­sungs­widrig

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die sich über 96 Stunden erstreckende Fesselung während eines Kranken­haus­aufenthalts den sicherungs­verwahrten Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persönlichkeits­recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt.

Der Beschwer­de­führer leidet unter verschiedenen gesund­heit­lichen Beein­träch­ti­gungen, die bereits in der Vergangenheit Behandlungen in Krankenhäusern außerhalb des Vollzugs erforderlich machten. Vom 13. bis zum 16. Oktober 2020 befand er sich in stationärer Behandlung in einem Univer­si­täts­klinikum. Während dieser Zeit war er, außer während der Vollnarkose, durchgängig gefesselt, entweder mit überkreuzten Händen oder per am Bettrahmen befestigter Fußfessel. Der Beschwer­de­führer stellte einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und Eilrechtsschutz hinsichtlich der Umstände seiner Ausführung ins Krankenhaus. Er sei insgesamt mehr als 96 Stunden ununterbrochen gefesselt gewesen, was Bewegungs­freiheit und Schlaf beeinträchtigt habe. Mit der am Bettrahmen befestigten Fußfessel sei ein Drehen oder Anwinkeln der Beine nicht möglich gewesen. Die Fesselung habe ihm Schmerzen bereitet. Bei den täglichen Spaziergängen außerhalb der Klinik sei er auf unangenehme Weise an den Händen gefesselt gewesen und gleichzeitig durch zwei Vollzugs­be­dienstete bewacht worden. Das Landgericht die Anträge des Beschwer­de­führers zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Entscheidung der Justiz­voll­zugs­anstalt, dass eine Fesselung erforderlich gewesen sei, sei nicht zu beanstanden. Dem Beschwer­de­führer als Untergebrachtem in der Sicherungsverwahrung mit noch unbestimmter Vollzugsdauer könne eine gewisse Flucht­mo­ti­vation zugesprochen werden. Die gegen den Beschluss des Landgerichts erhobene Rechts­be­schwerde verwarf das Oberlan­des­gericht als unzulässig. Das Landgericht habe zutreffend ausgeführt, dass die Justiz­voll­zugs­anstalt eine ermes­sens­feh­lerfreie Entscheidung über die Fesselung und Durchsuchung getroffen habe. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwer­de­führer, die mehrtägige Fesselung verletze ihn in seinen Grundrechten. Die körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung hat er nicht zum Gegenstand seiner Verfas­sungs­be­schwerde gemacht.

BVerfG bejahrt Verletzung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts

Die Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Das BVerfG hat die Entscheidungen von LG und OLG aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht. Die sich über 96 Stunden erstreckende Dauer der Fesse­lungs­maßnahme überschreitet jedenfalls in der vorliegenden Konstellation das verfas­sungs­rechtlich zulässige Maß. Beide Gerichte haben sich aber nicht hinreichend mit der Frage ausein­an­der­gesetzt, ob alle anderen Maßnahmen, welche die Fesse­lungs­a­n­ordnung nach Art und Dauer hätten beschränken können, ausgeschöpft wurden. Ein Gefangener kann zwar nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grund­recht­lichen Freiheiten zu vermeiden. Hier hätte es angesichts der mehrtägigen Verweildauer im Krankenhaus allerdings nahegelegen, die Fesse­lungs­a­n­ordnung jedenfalls phasenweise auszusetzen und – eine Gefahr des Entweichens unterstellt – in diesen Zeiträumen gegebenenfalls die Zahl der beauf­sich­ti­genden Vollzugsbeamten zu erhöhen. Ferner hätte sein zuvor beanstan­dungs­freies Vollzugs­ver­halten und die ihm attestierten Erkrankungen, die ausweislich der Auskunft des Anstaltsarztes ein Entweichen jedenfalls erschwerten, im Rahmen der Ermes­sens­ausübung in gewichtigem Maße berücksichtigt werden müssen. Zudem hätten seine gesund­heit­lichen Belastungen eine besondere Rücksichtnahme und eine periodische Überprüfung seines Zustands erfordert. Die beiden Gerichte hätten Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts unter Berück­sich­tigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verkannt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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