Bundesverfassungsgericht Beschluss19.01.2023
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Sicherungsverwahrten gegen die mehrtägige Fesselung während eines KrankenhausaufenthaltsMehrtägige Fesselung von Sicherungsverwahrtem in Krankenhaus verfassungswidrig
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die sich über 96 Stunden erstreckende Fesselung während eines Krankenhausaufenthalts den sicherungsverwahrten Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt.
Der Beschwerdeführer leidet unter verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die bereits in der Vergangenheit Behandlungen in Krankenhäusern außerhalb des Vollzugs erforderlich machten. Vom 13. bis zum 16. Oktober 2020 befand er sich in stationärer Behandlung in einem Universitätsklinikum. Während dieser Zeit war er, außer während der Vollnarkose, durchgängig gefesselt, entweder mit überkreuzten Händen oder per am Bettrahmen befestigter Fußfessel. Der Beschwerdeführer stellte einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und Eilrechtsschutz hinsichtlich der Umstände seiner Ausführung ins Krankenhaus. Er sei insgesamt mehr als 96 Stunden ununterbrochen gefesselt gewesen, was Bewegungsfreiheit und Schlaf beeinträchtigt habe. Mit der am Bettrahmen befestigten Fußfessel sei ein Drehen oder Anwinkeln der Beine nicht möglich gewesen. Die Fesselung habe ihm Schmerzen bereitet. Bei den täglichen Spaziergängen außerhalb der Klinik sei er auf unangenehme Weise an den Händen gefesselt gewesen und gleichzeitig durch zwei Vollzugsbedienstete bewacht worden. Das Landgericht die Anträge des Beschwerdeführers zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt, dass eine Fesselung erforderlich gewesen sei, sei nicht zu beanstanden. Dem Beschwerdeführer als Untergebrachtem in der Sicherungsverwahrung mit noch unbestimmter Vollzugsdauer könne eine gewisse Fluchtmotivation zugesprochen werden. Die gegen den Beschluss des Landgerichts erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht als unzulässig. Das Landgericht habe zutreffend ausgeführt, dass die Justizvollzugsanstalt eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Fesselung und Durchsuchung getroffen habe. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, die mehrtägige Fesselung verletze ihn in seinen Grundrechten. Die körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung hat er nicht zum Gegenstand seiner Verfassungsbeschwerde gemacht.
BVerfG bejahrt Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das BVerfG hat die Entscheidungen von LG und OLG aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die sich über 96 Stunden erstreckende Dauer der Fesselungsmaßnahme überschreitet jedenfalls in der vorliegenden Konstellation das verfassungsrechtlich zulässige Maß. Beide Gerichte haben sich aber nicht hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt, ob alle anderen Maßnahmen, welche die Fesselungsanordnung nach Art und Dauer hätten beschränken können, ausgeschöpft wurden. Ein Gefangener kann zwar nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grundrechtlichen Freiheiten zu vermeiden. Hier hätte es angesichts der mehrtägigen Verweildauer im Krankenhaus allerdings nahegelegen, die Fesselungsanordnung jedenfalls phasenweise auszusetzen und – eine Gefahr des Entweichens unterstellt – in diesen Zeiträumen gegebenenfalls die Zahl der beaufsichtigenden Vollzugsbeamten zu erhöhen. Ferner hätte sein zuvor beanstandungsfreies Vollzugsverhalten und die ihm attestierten Erkrankungen, die ausweislich der Auskunft des Anstaltsarztes ein Entweichen jedenfalls erschwerten, im Rahmen der Ermessensausübung in gewichtigem Maße berücksichtigt werden müssen. Zudem hätten seine gesundheitlichen Belastungen eine besondere Rücksichtnahme und eine periodische Überprüfung seines Zustands erfordert. Die beiden Gerichte hätten Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verkannt.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 06.03.2023
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)