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Bundesverfassungsgericht Urteil31.05.2006
Verfassungsbeschwerde eines Häftlings gegen Postkontrolle und Disziplinarmaßnahmen verworfenMangel an gesetzlichen Regelungen für den Jugendstrafvollzug muss beseitigt werden
Für den Jugendstrafvollzug fehlen die verfassungsrechtlich erforderlichen, auf die besonderen Anforderungen des Strafvollzuges an Jugendlichen zugeschnittenen gesetzlichen Grundlagen. Für eine begrenzte Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen jedoch eingreifende Maßnahmen im Jugendstrafvollzug hingenommen werden, soweit sie zur Aufrechterhaltung eines geordneten Vollzuges unerlässlich sind. Die Übergangsfrist endet mit dem Ablauf des Jahres 2007. Dies entschied der Bundesverfassungsgericht.
Der Beschwerdeführer verbüßt seit Mitte 2003 in der Justizvollzugsanstalt eine neunjährige Jugendstrafe. Verschiedene Pflichtverletzungen führten in der Vergangenheit zur Verhängung zahlreicher Disziplinarmaßnahmen gegen den Beschwerdeführer.
Verfahren 2 BvR 1673/04:
Im Dezember 2003 stellte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt einen Antrag auf Aufhebung der allgemeinen Postkontrolle. Der Antrag wurde auf der Grundlage von Nr. 24 Abs. 3 der Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug (VVJug) abgelehnt. Nach dieser Vorschrift darf der Schriftwechsel – abgesehen von Schreiben an Verteidiger und bestimmte Institutionen – aus Gründen der Erziehung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt überwacht werden. Die Justizvollzugsanstalt führte zur Begründung ihrer Entscheidung aus, dass der Schriftverkehr in der Justizvollzugsanstalt allgemein für alle Inhaftierten überwacht werde, weil gerade in dem sensiblen Bereich des Jugendstrafvollzugs Kenntnisse aus dem sozialen Umfeld zur Erfüllung des Erziehungsauftrags notwendig seien. Bei dem Beschwerdeführer sei ferner vor dem Hintergrund seiner vielfältigen, in Disziplinarverfahren dokumentierten Auffälligkeiten eine Überwachung des Schriftwechsels in besonderem Maße geboten. Den hiergegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Oberlandesgericht. Zwar fehle es für die Postkontrolle an einem förmlichen Gesetz. Bis zur Schaffung einer unmittelbar anwendbaren gesetzlichen Grundlage stelle aber der in § 29 Strafvollzugsgesetz (Postkontrolle im Erwachsenenstrafvollzug) und Nr. 24 VVJug enthaltene Rechtsgedanke eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Postkontrolle dar.
Verfahren 2 BvR 2402/04:
Im Mai 2004 verhängte der Anstaltsleiter gegen den Beschwerdeführer wegen maßgeblicher Beteiligung an einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen als Disziplinarmaßnahme nach Nr. 87 VVJug die Minderung des Einkaufs um 50 % für einen Monat sowie den Ausschluss des Beschwerdeführers von der Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen und Fernsehsperre für 14 Tage. Der hiergegen gerichtete Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er wiederum das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für die Maßnahme geltend machte, wurde vom Oberlandesgericht verworfen.
Begründung der Verfassungsbeschwerden:
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Brief- und Postgeheimnisses (Art. 10 Abs. 1 GG), seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie seiner Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Die gegen ihn verhängten Maßnahmen seien nicht gerechtfertigt, weil ein Gesetz als Ermächtigungsgrundlage fehle. Die §§ 91, 92 und 115 Jugendgerichtsgesetz seien lediglich Rahmenvorschriften und könnten die vielfältigen Eingriffe in die Grundrechte der Gefangenen nicht rechtfertigen. Das Strafvollzugsgesetz gelte nicht für den Jugendstrafvollzug. Auch die Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug stellten als bloße Verwaltungsanordnungen keine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage dar.
Trotz Fehlens der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen hatten die Verfassungsbeschwerden des Beschwerdeführers im Ergebnis keinen Erfolg. Die im konkreten Fall angeordneten Maßnahmen waren zur Aufrechterhaltung eines geordneten Jugendstrafvollzuges unerlässlich.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Schon seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. März 1972 ist geklärt, dass auch Eingriffe in die Grundrechte von Strafgefangenen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, die die Eingriffsvoraussetzungen in hinreichend bestimmter Weise normiert. Es gibt keinen Grund, weshalb für den Jugendstrafvollzug etwas anderes gelten sollte. Gefangene im Jugendstrafvollzug sind Grundrechtsträger wie andere Gefangene auch.
2. Ausreichende gesetzliche Eingriffsgrundlagen fehlen bislang für beinahe den gesamten Bereich des Jugendstrafvollzuges. Spezifische gesetzliche Regelungen finden sich nur in wenigen Einzelvorschriften des Jugendgerichtsgesetzes und des Strafvollzugsgesetzes. Der Mangel an gesetzlichen Grundlagen für den Jugendstrafvollzug lässt sich nicht durch Rückgriff auf Rechtsgedanken des – den Erwachsenenstrafvollzug regelnden – Strafvollzugsgesetzes beheben. Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendbarkeit dieses Gesetzes liegen nicht vor.
3. Die Ausgangsbedingungen und Folgen strafrechtlicher Zurechnung sind bei Jugendlichen in wesentlichen Hinsichten andere als bei Erwachsenen. Jugendliche befinden sich biologisch, psychisch und sozial in einem Stadium des Übergangs, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpassungsschwierigkeiten verbunden ist. Zudem steht der Jugendliche noch in einem Alter, in dem nicht nur er selbst, sondern auch andere für seine Entwicklung verantwortlich sind. Die Fehlentwicklung, die sich in gravierenden Straftaten eines Jugendlichen äußert, steht in besonders dichtem und oft auch besonders offensichtlichem Zusammenhang mit einem Umfeld und Umständen, die ihn geprägt haben. Freiheitsstrafen wirken sich zudem in verschiedenen Hinsichten für Jugendliche besonders einschneidend aus. Ihr Vollzug berührt zudem auch Grundrechte der Erziehungsberechtigten.
4. Ein der Achtung der Menschenwürde und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens verpflichteter Strafvollzug muss diesen Besonderheiten - die jedenfalls bei einem noch jugendhaften Entwicklungsstand größtenteils auch auf Heranwachsende zutreffen - Rechnung tragen.
a) Das Erfordernis gesetzlicher Grundlagen, die den Besonderheiten des Jugendstrafvollzuges angepasst sind, bezieht sich dabei einerseits auf den Bereich der unmittelbar eingreifenden Maßnahmen. Offensichtlich ist hier etwa ein im Hinblick auf physische und psychische Besonderheiten des Jugendalters spezieller Regelungsbedarf in Bezug auf Kontakte, körperliche Bewegung und die Art der Sanktionierung von Pflichtverstößen. So müssen etwa die Besuchsmöglichkeiten für familiäre Kontakte um ein Mehrfaches über denen im Erwachsenenstrafvollzug angesetzt werden. Erforderlich sind des weiteren gesetzliche Vorkehrungen dafür, dass innerhalb der Anstalt einerseits Kontakte, die positivem sozialen Lernen dienen können, aufgebaut und nicht unnötig beschränkt werden, andererseits aber die Gefangenen vor wechselseitigen Übergriffen geschützt sind. Auch die Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes muss auf die typische Situation der im Jugendstrafvollzug Inhaftierten Rücksicht nehmen. Die gegenwärtige Ausgestaltung (Rechtsweg zum Oberlandesgericht nach §§ 23 ff. Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz - EGGVG) wird - auch im Vergleich mit den für Gefangene im Erwachsenenstrafvollzug vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten nach §§ 109 ff. des Strafvollzugsgesetzes - den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht.
b) Das Erfordernis gesetzlicher Regelung betrifft auch die Ausrichtung des Vollzuges auf das Ziel der sozialen Integration. Der Gesetzgeber selbst ist verpflichtet, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Für die Ausgestaltung dieses Konzepts hat er einen weiten Spielraum. Er muss jedoch durch gesetzliche Festlegung hinreichend konkretisierter Vorgaben Sorge dafür tragen, dass für allgemein als erfolgsnotwendig anerkannte Vollzugsbedingungen und Maßnahmen die erforderliche Ausstattung mit den personellen und finanziellen Mitteln kontinuierlich gesichert ist. Dies betrifft insbesondere die Bereitstellung ausreichender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, geeignete Formen der Unterbringung und Betreuung sowie eine mit angemessenen Hilfen für die Phase nach der Entlassung verzahnte Entlassungsvorbereitung.
c) Mit Rücksicht auf das besonders hohe Gewicht der grundrechtlichen Belange, die durch den Jugendstrafvollzug berührt werden, ist der Gesetzgeber zur Beobachtung und nach Maßgabe der Beobachtungsergebnisse zur Nachbesserung verpflichtet. Der Gesetzgeber muss daher sich selbst und den mit der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen befassten Behörden die Möglichkeit sichern, aus Erfahrungen mit der jeweiligen gesetzlichen Ausgestaltung des Vollzuges und der Art und Weise, in der die gesetzlichen Vorgaben angewendet werden, zu lernen.
5. Für eine begrenzte Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen jedoch eingreifende Maßnahmen im Jugendstrafvollzug hingenommen werden. Die Aufrechterhaltung und inhaltlich verfassungskonforme Durchführung des Jugendstrafvollzuges ist ohne Eingriffsbefugnisse nicht möglich. Bis zur Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustandes durch den Gesetzgeber reduzieren sich die Befugnisse der Behörden und Gerichte zu Eingriffen in verfassungsrechtlich geschützte Positionen auf das, was zur Aufrechterhaltung eines ansonsten verfassungsgemäß geordneten Vollzuges unerlässlich ist. Bis zu diesem Zeitpunkt ist gerichtlicher Rechtsschutz weiterhin nach Maßgabe der §§ 23 ff. EGGVG zu gewähren. Die Übergangsfrist endet mit dem Ablauf des Jahres 2007.
6. Nach diesen Maßstäben haben die Verfassungsbeschwerden im Ergebnis keinen Erfolg. Die Möglichkeit, auf Pflichtverstöße der Gefangenen mit disziplinarischen Maßnahmen zu antworten, ist für die Aufrechterhaltung eines geordneten, zur Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben fähigen Vollzuges unerlässlich. Die vom Beschwerdeführer darüber hinaus beanstandete Überwachung seines Schriftwechsels konnte zwar nicht mit den angeführten erzieherischen Gründen gerechtfertigt werden. Es ist jedoch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Postkontrolle unter den konkreten Umständen für erforderlich gehalten wurde, um Gefahren für einen geordneten Vollzug (Fluchtplanungen, Vorbereitung von Straftaten) entgegenzutreten.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 31.05.2006
Quelle: ra-online, Pressemitteilungen Nr. 07 und 43/06 des BVerfG vom 01.02.2006 und 31.05.2006
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