15.11.2024
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Dokument-Nr. 2459

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Bundesverfassungsgericht Urteil31.05.2006

Verfas­sungs­be­schwerde eines Häftlings gegen Postkontrolle und Diszi­pli­n­a­r­maß­nahmen verworfenMangel an gesetzlichen Regelungen für den Jugend­s­traf­vollzug muss beseitigt werden

Für den Jugend­s­traf­vollzug fehlen die verfas­sungs­rechtlich erforderlichen, auf die besonderen Anforderungen des Strafvollzuges an Jugendlichen zugeschnittenen gesetzlichen Grundlagen. Für eine begrenzte Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen jedoch eingreifende Maßnahmen im Jugend­s­traf­vollzug hingenommen werden, soweit sie zur Aufrecht­er­haltung eines geordneten Vollzuges unerlässlich sind. Die Übergangsfrist endet mit dem Ablauf des Jahres 2007. Dies entschied der Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Der Beschwer­de­führer verbüßt seit Mitte 2003 in der Justiz­voll­zugs­anstalt eine neunjährige Jugendstrafe. Verschiedene Pflicht­ver­let­zungen führten in der Vergangenheit zur Verhängung zahlreicher Diszi­pli­n­a­r­maß­nahmen gegen den Beschwer­de­führer.

Verfahren 2 BvR 1673/04:

Im Dezember 2003 stellte der Beschwer­de­führer bei der Justiz­voll­zugs­anstalt einen Antrag auf Aufhebung der allgemeinen Postkontrolle. Der Antrag wurde auf der Grundlage von Nr. 24 Abs. 3 der Verwal­tungs­vor­schriften zum Jugend­s­traf­vollzug (VVJug) abgelehnt. Nach dieser Vorschrift darf der Schriftwechsel – abgesehen von Schreiben an Verteidiger und bestimmte Institutionen – aus Gründen der Erziehung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt überwacht werden. Die Justiz­voll­zugs­anstalt führte zur Begründung ihrer Entscheidung aus, dass der Schriftverkehr in der Justiz­voll­zugs­anstalt allgemein für alle Inhaftierten überwacht werde, weil gerade in dem sensiblen Bereich des Jugend­s­traf­vollzugs Kenntnisse aus dem sozialen Umfeld zur Erfüllung des Erzie­hungs­auftrags notwendig seien. Bei dem Beschwer­de­führer sei ferner vor dem Hintergrund seiner vielfältigen, in Diszi­pli­na­r­ver­fahren dokumentierten Auffälligkeiten eine Überwachung des Schriftwechsels in besonderem Maße geboten. Den hiergegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Oberlan­des­gericht. Zwar fehle es für die Postkontrolle an einem förmlichen Gesetz. Bis zur Schaffung einer unmittelbar anwendbaren gesetzlichen Grundlage stelle aber der in § 29 Straf­voll­zugs­gesetz (Postkontrolle im Erwach­se­nen­straf­vollzug) und Nr. 24 VVJug enthaltene Rechtsgedanke eine ausreichende Ermäch­ti­gungs­grundlage für die Postkontrolle dar.

Verfahren 2 BvR 2402/04:

Im Mai 2004 verhängte der Anstaltsleiter gegen den Beschwer­de­führer wegen maßgeblicher Beteiligung an einer tätlichen Ausein­an­der­setzung mit einem Mitgefangenen als Diszi­pli­n­a­r­maßnahme nach Nr. 87 VVJug die Minderung des Einkaufs um 50 % für einen Monat sowie den Ausschluss des Beschwer­de­führers von der Teilnahme an Gemein­schafts­ver­an­stal­tungen und Fernsehsperre für 14 Tage. Der hiergegen gerichtete Antrag des Beschwer­de­führers auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er wiederum das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für die Maßnahme geltend machte, wurde vom Oberlan­des­gericht verworfen.

Begründung der Verfas­sungs­be­schwerden:

Der Beschwer­de­führer rügt eine Verletzung des Brief- und Postge­heim­nisses (Art. 10 Abs. 1 GG), seiner allgemeinen Handlungs­freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie seiner Infor­ma­ti­o­ns­freiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Die gegen ihn verhängten Maßnahmen seien nicht gerechtfertigt, weil ein Gesetz als Ermäch­ti­gungs­grundlage fehle. Die §§ 91, 92 und 115 Jugend­ge­richts­gesetz seien lediglich Rahmen­vor­schriften und könnten die vielfältigen Eingriffe in die Grundrechte der Gefangenen nicht rechtfertigen. Das Straf­voll­zugs­gesetz gelte nicht für den Jugend­s­traf­vollzug. Auch die Verwal­tungs­vor­schriften zum Jugend­s­traf­vollzug stellten als bloße Verwal­tungs­a­n­ord­nungen keine gesetzliche Ermäch­ti­gungs­grundlage dar.

Trotz Fehlens der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen hatten die Verfas­sungs­be­schwerden des Beschwer­de­führers im Ergebnis keinen Erfolg. Die im konkreten Fall angeordneten Maßnahmen waren zur Aufrecht­er­haltung eines geordneten Jugend­s­traf­vollzuges unerlässlich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Schon seit der Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 14. März 1972 ist geklärt, dass auch Eingriffe in die Grundrechte von Strafgefangenen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, die die Eingriffs­vor­aus­set­zungen in hinreichend bestimmter Weise normiert. Es gibt keinen Grund, weshalb für den Jugend­s­traf­vollzug etwas anderes gelten sollte. Gefangene im Jugend­s­traf­vollzug sind Grund­recht­s­träger wie andere Gefangene auch.

2. Ausreichende gesetzliche Eingriffs­grundlagen fehlen bislang für beinahe den gesamten Bereich des Jugend­s­traf­vollzuges. Spezifische gesetzliche Regelungen finden sich nur in wenigen Einzel­vor­schriften des Jugend­ge­richts­ge­setzes und des Straf­voll­zugs­ge­setzes. Der Mangel an gesetzlichen Grundlagen für den Jugend­s­traf­vollzug lässt sich nicht durch Rückgriff auf Rechtsgedanken des – den Erwach­se­nen­straf­vollzug regelnden – Straf­voll­zugs­ge­setzes beheben. Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendbarkeit dieses Gesetzes liegen nicht vor.

3. Die Ausgangs­be­din­gungen und Folgen straf­recht­licher Zurechnung sind bei Jugendlichen in wesentlichen Hinsichten andere als bei Erwachsenen. Jugendliche befinden sich biologisch, psychisch und sozial in einem Stadium des Übergangs, das typischerweise mit Spannungen, Unsicherheiten und Anpas­sungs­schwie­rig­keiten verbunden ist. Zudem steht der Jugendliche noch in einem Alter, in dem nicht nur er selbst, sondern auch andere für seine Entwicklung verantwortlich sind. Die Fehlentwicklung, die sich in gravierenden Straftaten eines Jugendlichen äußert, steht in besonders dichtem und oft auch besonders offen­sicht­lichem Zusammenhang mit einem Umfeld und Umständen, die ihn geprägt haben. Freiheits­s­trafen wirken sich zudem in verschiedenen Hinsichten für Jugendliche besonders einschneidend aus. Ihr Vollzug berührt zudem auch Grundrechte der Erzie­hungs­be­rech­tigten.

4. Ein der Achtung der Menschenwürde und dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit staatlichen Strafens verpflichteter Strafvollzug muss diesen Besonderheiten - die jedenfalls bei einem noch jugendhaften Entwick­lungsstand größtenteils auch auf Heranwachsende zutreffen - Rechnung tragen.

a) Das Erfordernis gesetzlicher Grundlagen, die den Besonderheiten des Jugend­s­traf­vollzuges angepasst sind, bezieht sich dabei einerseits auf den Bereich der unmittelbar eingreifenden Maßnahmen. Offensichtlich ist hier etwa ein im Hinblick auf physische und psychische Besonderheiten des Jugendalters spezieller Regelungsbedarf in Bezug auf Kontakte, körperliche Bewegung und die Art der Sanktionierung von Pflicht­ver­stößen. So müssen etwa die Besuchs­mög­lich­keiten für familiäre Kontakte um ein Mehrfaches über denen im Erwach­se­nen­straf­vollzug angesetzt werden. Erforderlich sind des weiteren gesetzliche Vorkehrungen dafür, dass innerhalb der Anstalt einerseits Kontakte, die positivem sozialen Lernen dienen können, aufgebaut und nicht unnötig beschränkt werden, andererseits aber die Gefangenen vor wechselseitigen Übergriffen geschützt sind. Auch die Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes muss auf die typische Situation der im Jugend­s­traf­vollzug Inhaftierten Rücksicht nehmen. Die gegenwärtige Ausgestaltung (Rechtsweg zum Oberlan­des­gericht nach §§ 23 ff. Einfüh­rungs­gesetz zum Gerichts­ver­fas­sungs­gesetz - EGGVG) wird - auch im Vergleich mit den für Gefangene im Erwach­se­nen­straf­vollzug vorgesehenen Rechts­schutz­mög­lich­keiten nach §§ 109 ff. des Straf­voll­zugs­ge­setzes - den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht gerecht.

b) Das Erfordernis gesetzlicher Regelung betrifft auch die Ausrichtung des Vollzuges auf das Ziel der sozialen Integration. Der Gesetzgeber selbst ist verpflichtet, ein wirksames Resozi­a­li­sie­rungs­konzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Für die Ausgestaltung dieses Konzepts hat er einen weiten Spielraum. Er muss jedoch durch gesetzliche Festlegung hinreichend konkretisierter Vorgaben Sorge dafür tragen, dass für allgemein als erfolgs­not­wendig anerkannte Vollzugs­be­din­gungen und Maßnahmen die erforderliche Ausstattung mit den personellen und finanziellen Mitteln kontinuierlich gesichert ist. Dies betrifft insbesondere die Bereitstellung ausreichender Bildungs- und Ausbil­dungs­mög­lich­keiten, geeignete Formen der Unterbringung und Betreuung sowie eine mit angemessenen Hilfen für die Phase nach der Entlassung verzahnte Entlas­sungs­vor­be­reitung.

c) Mit Rücksicht auf das besonders hohe Gewicht der grund­recht­lichen Belange, die durch den Jugend­s­traf­vollzug berührt werden, ist der Gesetzgeber zur Beobachtung und nach Maßgabe der Beobach­tungs­er­gebnisse zur Nachbesserung verpflichtet. Der Gesetzgeber muss daher sich selbst und den mit der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen befassten Behörden die Möglichkeit sichern, aus Erfahrungen mit der jeweiligen gesetzlichen Ausgestaltung des Vollzuges und der Art und Weise, in der die gesetzlichen Vorgaben angewendet werden, zu lernen.

5. Für eine begrenzte Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen jedoch eingreifende Maßnahmen im Jugend­s­traf­vollzug hingenommen werden. Die Aufrecht­er­haltung und inhaltlich verfas­sungs­konforme Durchführung des Jugend­s­traf­vollzuges ist ohne Eingriffs­be­fugnisse nicht möglich. Bis zur Herstellung eines verfas­sungs­mäßigen Zustandes durch den Gesetzgeber reduzieren sich die Befugnisse der Behörden und Gerichte zu Eingriffen in verfas­sungs­rechtlich geschützte Positionen auf das, was zur Aufrecht­er­haltung eines ansonsten verfas­sungsgemäß geordneten Vollzuges unerlässlich ist. Bis zu diesem Zeitpunkt ist gerichtlicher Rechtsschutz weiterhin nach Maßgabe der §§ 23 ff. EGGVG zu gewähren. Die Übergangsfrist endet mit dem Ablauf des Jahres 2007.

6. Nach diesen Maßstäben haben die Verfas­sungs­be­schwerden im Ergebnis keinen Erfolg. Die Möglichkeit, auf Pflichtverstöße der Gefangenen mit diszi­pli­na­rischen Maßnahmen zu antworten, ist für die Aufrecht­er­haltung eines geordneten, zur Erfüllung seiner verfas­sungs­recht­lichen Aufgaben fähigen Vollzuges unerlässlich. Die vom Beschwer­de­führer darüber hinaus beanstandete Überwachung seines Schriftwechsels konnte zwar nicht mit den angeführten erzieherischen Gründen gerechtfertigt werden. Es ist jedoch verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Postkontrolle unter den konkreten Umständen für erforderlich gehalten wurde, um Gefahren für einen geordneten Vollzug (Fluchtplanungen, Vorbereitung von Straftaten) entge­gen­zu­treten.

Quelle: ra-online, Pressemitteilungen Nr. 07 und 43/06 des BVerfG vom 01.02.2006 und 31.05.2006

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