24.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss15.08.2007

Erfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen erneute Inhaftierung nach vorangegangener HaftverschonungBVerfG zu den Anforderungen an Widerruf einer gewährten Haftverschonung

Der Umstand allein, dass nach einer Haftverschonung ein (noch nicht rechtskräftiges) Urteil ergangen ist, kann den Widerruf der Haftver­scho­nungs­ent­scheidung bei im Übrigen unveränderten Umständen nicht rechtfertigen. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Dem Beschwer­de­führer liegt sexuelle Nötigung und Vergewaltigung zur Last. Wegen Fluchtgefahr erließ das Landgericht gegen ihn im Juni 2006 einen Haftbefehl, der drei Monate später gegen Meldeauflagen und Abgabe sämtlicher Reisedokumente außer Vollzug gesetzt wurde. Im Mai 2007 verurteilte das Landgericht den Beschwer­de­führer zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da der Verteidiger des Beschwer­de­führers Revision eingelegt hat. Außerdem hob das Gericht die Haftver­scho­nungs­ent­scheidung auf und setzte den Haftbefehl wieder in Vollzug. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlan­des­gericht mit der Begründung, dass durch die Verurteilung neue Umstände hervorgetreten seien, die die erneute Verhaftung des Beschwer­de­führers erforderlich machten.

Die Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts auf, da sie den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht verletze. Der Umstand allein, dass nach der Haftverschonung ein (noch nicht rechtskräftiges) Urteil ergangen sei, könne den Widerruf der Haftver­scho­nungs­ent­scheidung bei im Übrigen unveränderten Umständen nicht rechtfertigen. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen. Liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der gewährten Haftverschonung nicht vor, wovon nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auszugehen ist, muss der Haftbefehl erneut außer Vollzug gesetzt und der Beschwer­de­führer unverzüglich aus der Unter­su­chungshaft entlassen werden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 Straf­pro­zess­ordnung darf die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nur dann widerrufen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurtei­lungs­grundlage seit der Gewährung der Haftverschonung geändert haben. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil kann im Einzelfall zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass die später vom Tatrichter verhängte oder die von der Staats­an­walt­schaft beantragte Strafe von der Prognose des Haftrichters erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. War dagegen zum Zeitpunkt der Außer­voll­zug­setzung des Haftbefehls mit der später ausgesprochenen - auch höheren - Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, darf die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verscho­nungs­be­schlusses gesetzte Vertrau­en­s­tat­bestand als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch.

Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts nicht gerecht. Beide haben einseitig auf die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten abgestellt, ohne darzulegen, warum der Strafausspruch zum Nachteil des Beschwer­de­führers erheblich von der bisherigen Straferwartung abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht hat. Weder das Landgericht noch das Oberlan­des­gericht haben berücksichtigt, dass der Beschwer­de­führer durch das strikte Befolgen der ihm erteilten Auflagen über einen längeren Zeitraum hinweg einen Vertrau­en­s­tat­bestand geschaffen hat und hierin grundsätzlich schutzwürdig ist.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 85/07 des BVerfG vom 17.08.2007

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