15.11.2024
15.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss06.06.2006

Weisung zur Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht verstößt gegen das Persön­lich­keitsrechtBehandlung kann durch Vorlage von Nachweisen überwacht werden

Der Beschwer­de­führer war aufgrund straf­ge­richt­licher Anordnung sieben Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Nachdem das Oberlan­des­gericht die Unterbringung für erledigt erklärt hatte, stellte es den Eintritt der Führungs­aufsicht fest. Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde wendet sich der Beschwer­de­führer gegen die Führungs­aufsicht sowie gegen die damit verbundene gerichtliche Weisung, seinen – ihn im Rahmen einer ambulanten Therapie behandelnden – Arzt von der Schweigepflicht gegenüber staatlichen Stellen zu entbinden.

Die Verfas­sungs­be­schwerde war teilweise erfolgreich. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte fest, dass gegenwärtig keine gesetzliche Grundlage besteht, die eine Weisung zur Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht ermöglicht. Der Eintritt der Führungs­aufsicht hingegen wurde von der Kammer nicht beanstandet.

Der Beschwer­de­führer hatte im Zustand nicht ausschließbarer Schul­d­un­fä­higkeit aufgrund einer Psychose einen versuchten Totschlag, eine Körper­ver­letzung mit Todesfolge und eine versuchte schwere räuberische Erpressung begangen. Das Landgericht ordnete daher 1998 seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Im Juli 2005 erklärte das Oberlan­des­gericht die Unterbringung des Beschwer­de­führers für erledigt. Zugleich stellte das Gericht den Eintritt der Führungs­aufsicht fest, deren Dauer auf fünf Jahre festgesetzt wurde. Neben der Weisung, sich unverzüglich in ambulante psycho­the­ra­peu­tische Behandlung zu begeben, mit welcher sich der Beschwer­de­führer ausdrücklich einverstanden erklärt hatte, wurde der Beschwer­de­führer angewiesen, den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht hinsichtlich etwaiger mangelnder Mitarbeit oder im Falle des Abbruchs der Therapie gegenüber dem Bewäh­rungs­helfer, der Staats­an­walt­schaft und der Führungs­auf­sichts­stelle zu entbinden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts verletzt den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht, soweit sie ihn verpflichtet, den jeweils behandelnden Arzt von der Schweigepflicht teilweise zu entbinden. Wer sich in ärztliche Behandlung begibt, muss und darf erwarten, dass alles, was der Arzt im Rahmen seiner Berufsausübung über seine gesundheitliche Verfassung erfährt, geheim bleibt und nicht zur Kenntnis Unberufener gelangt. Nur so kann zwischen Patient und Arzt jenes Vertrauen entstehen, das zu den Grund­vor­aus­set­zungen ärztlichen Wirkens zählt. Das allgemeine Persön­lich­keitsrecht schützt daher grundsätzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesund­heits­zustand, die seelische Verfassung und den Charakter.

Durch die Verpflichtung zur Entbindung von der Schweigepflicht besteht die Gefahr, dass staatlichen Stellen Befunde über den gesund­heit­lichen – insbesondere auch psychischen – Zustand des Beschwer­de­führers bekannt werden. Daran ändert auch die Beschränkung des Umfangs der Entbindung auf die Fälle „mangelnder Mitarbeit“ oder „Abbruch der Therapie“ nichts. Die Frage der Kooperation des Probanden wird häufig ohne Kenntnis der ärztlichen Thera­pie­ab­sichten schwerlich zu beurteilen sein. Die angegriffene Entscheidung geht auch nicht auf die vom Beschwer­de­führer vorgeschlagene Verfahrensweise ein, Beginn und Fortdauer der Behandlung durch vom Probanden vorzulegende Nachweise zu überwachen. Dieser Modus, der auch ohne vorherige Zustimmung des Betroffenen nicht zu beanstanden wäre und damit eine Entbindung von der Schweigepflicht erübrigen könnte, entspricht auch teilweise der Praxis anderer Gerichte, wie eine Umfrage bei den Ländern zu entsprechenden Weisungen gezeigt hat.

Zwar müssen Eingriffe in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht im überwiegenden Allge­mein­in­teresse hingenommen werden, sie bedürfen aber einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigung. Eine solche Grundlage besteht hier gegenwärtig nicht; insbesondere bietet § 68 b Abs. 2 Strafgesetzbuch keine ausreichende Ermäch­ti­gungs­grundlage. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kann das Gericht dem Verurteilten „Weisungen“ erteilen. Mit den beispielhaft genannten Weisungen, die sich auf Ausbildung, Arbeit, Freizeit, die Ordnung der wirtschaft­lichen Verhältnisse oder die Erfüllung der Unter­halts­pflichten beziehen, lässt sich die hier im Zusammenhang mit einer psycho­the­ra­peu­tischen Behandlung zu erteilende Entbindung von der Schweigepflicht schwerlich vergleichen. Zwar hat der Gesetzgeber auch die Aufnahme einer ärztlichen Behandlung als Mittel der Führungs­aufsicht gesehen. Eine Regelung zur ärztlichen Schweigepflicht hat er jedoch nicht getroffen. Gegen die Annahme einer bereits existierenden Ermäch­ti­gungs­grundlage spricht auch ein aktuelles gesetz­ge­be­risches Vorhaben der Bundesregierung. Der Gesetzentwurf zur Reform der Führungs­aufsicht vom 7. April 2006 sieht vor, dass sich ein bestimmter Personenkreis, unter anderem Ärzte, gegenüber dem Gericht, der Aufsichtsstelle und dem Bewäh­rungs­helfer zu offenbaren haben, soweit dies für deren Aufga­be­n­er­füllung erforderlich ist.

2. Die Verfas­sungs­be­schwerde hat dagegen keinen Erfolg, soweit sich der Beschwer­de­führer gegen den Eintritt der Führungs­aufsicht wendet. Das Rückwir­kungs­verbot des Art. 103 Abs. 2 GG steht dem Eintritt der Führungs­aufsicht nicht entgegen, da dieses nur Maßnahmen mit Strafcharakter, hingegen nicht die Maßregeln der Besserung und Sicherung umfasst. Unabhängig davon ist nicht ersichtlich, dass die vom Beschwer­de­führer geltend gemachten Vertrau­ens­schutz­belange die mit dem Gesetz verfolgten Anliegen überwiegen würden. Der Übergang des Betroffenen aus dem Maßregelvollzug in die Freiheit soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers durch Hilfestellung und Kontrollen begleitet werden. Beanstan­dungsfrei ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass hierfür im Interesse der Wieder­ein­glie­derung des Entlassenen und letztlich im Interesse des Schutzes der Bevölkerung ein zwingendes Bedürfnis besteht.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 56/06 des BVerfG vom 23.06.2006

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss2565

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI