15.11.2024
15.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Dokument-Nr. 2772

Drucken
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss27.06.2006

Häftling wehrt sich erfolgreich gegen Verlegung in eine andere Justiz­voll­zugs­anstaltMaßnahmen im Strafvollzug müssen gegen den potenziellen Störer gerichtet werden

Ein in Siche­rungs­ver­wahrung befindlicher Häftling, der in eine andere Justiz­voll­zugs­anstalt verlegt werden sollte, hat sich hiergegen erfolgreich zur Wehr gesetzt. Hintergrund der Verlegung war der - nicht erhärtete - Verdacht, dass er einen Billardtisch verschmutzt haben sollte. Wegen Unruhe unter den Mitgefangenen sollte er daher velegt werden. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass es rechts­s­taat­lichen Grundsätzen zuwider laufe , wenn Abwehrmaßnahmen nicht vorrangig gegen den oder die potenziellen Störer, sondern gegen den Betroffenen ergriffen würden.

Der Beschwer­de­führer, der sich in Siche­rungs­ver­wahrung befindet, stand im - nicht erhärteten -Verdacht, einen im Freizeitraum der Justiz­voll­zugs­anstalt befindlichen Billardtisch durch eine farbige Flüssigkeit beschädigt zu haben. Der Leiter der Anstalt ordnete wegen erheblicher Unruhe, die unter den Mitgefangenen wegen der Sachbe­schä­digung entstanden sei, die Verlegung des Beschwer­de­führers in eine andere Justiz­voll­zugs­anstalt an. Das Landgericht bestätigte die Anordnung. Es sei vertretbar gewesen, den Beschwer­de­führer zu seinem eigenen Schutz und zur Wieder­her­stellung der Ordnung in eine andere Anstalt zu verlegen. Ob der Beschwer­de­führer zu Recht beschuldigt worden sei, sei ohne Belang, da die Verlegung primär darauf beruhe, dass andere Siche­rungs­ver­wahrte ihn als Verursacher angesehen hätten und hierdurch eine erhebliche Unruhe mit der Gefahr von Übergriffen eingetreten sei.

Die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde war erfolgreich. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die angegriffene Entscheidung auf, da sie den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht verletze. Es laufe den Grundsätzen rechts­s­taat­licher Zurechnung zuwider, wenn Maßnahmen zur Abwehr drohenden rechtswidrigen Verhaltens nicht vorrangig gegen die Störer, sondern ohne weiteres – und in Grundrechte eingreifend – gegen den von solchem rechtswidrigen Verhalten potentiell Betroffenen ergriffen werden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die Verlegung eines Strafgefangenen oder Siche­rungs­ver­wahrten in eine andere Anstalt ohne seinen Willen kann für ihn mit schwerwiegenden Beein­träch­ti­gungen verbunden sein. Alle seine innerhalb der Anstalt entwickelten sozialen Beziehungen werden praktisch abgebrochen. Der unter den Bedingungen des Anstaltslebens schwierige Aufbau eines persönlichen Lebensumfeldes muss von neuem begonnen werden. Die Verlegung kann darüber hinaus auch die Resozi­a­li­sierung des Strafgefangenen beeinträchtigen und berührt somit auch den grund­recht­lichen Anspruch auf einen Strafvollzug, der auf das Ziel der Resozi­a­li­sierung ausgerichtet ist.

§ 85 des Straf­voll­zugs­ge­setzes, der auf Siche­rungs­ver­wahrte entsprechend anzuwenden ist, ermöglicht eine Verlegung des Strafgefangenen nur für den Fall, dass in erhöhtem Maße Fluchtgefahr gegeben ist oder sonst das Verhalten oder der Zustand des Gefangenen eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt begründet. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Beschwer­de­führer allein deshalb verlegt, weil andere Siche­rungs­ver­wahrte den Antragsteller als Verursacher der Beschädigung ansähen und hierdurch eine erhebliche Unruhe sowie die Gefahr einer Eskalation mit dem latenten Risiko von Übergriffen auf den Beschwer­de­führer entstanden seien. Es kann offen bleiben, ob der Umstand, dass ein Siche­rungs­ver­wahrter von Mitinsassen der Anstalt eines bestimmten Verhaltens verdächtigt wird, als ein sicherheits- und ordnungs­ge­fähr­dender Zustand dieses Siche­rungs­ver­wahrten aufgefasst werden kann. Denn jedenfalls ist es mit den Grundsätzen rechts­s­taat­licher Zurechnung unvereinbar, wenn die Gefahr, dass bestimmte Personen sich in rechtswidriger Weise verhalten, nicht im Regelfall vorrangig diesen Personen zugerechnet und nach Möglichkeit durch ihnen gegenüber zu ergreifende Maßnahmen abgewehrt wird, sondern ohne Weiteres Dritte oder gar die potentiellen Opfer des drohenden rechtswidrigen Verhaltens zum Objekt eingreifender Maßnahmen der Gefahrenabwehr gemacht werden. Rechts­s­taatliche Zurechnung muss darauf ausgerichtet sein, nicht rechtswidriges, sondern rechtmäßiges Verhalten zu begünstigen. Dem läuft es grundsätzlich zuwider, wenn, wie im vorliegenden Fall, Maßnahmen zur Abwehr drohenden rechtswidrigen Verhaltens nicht vorrangig gegen den oder die Störer, sondern ohne weiteres – und in Grundrechte eingreifend – gegen den von solchem rechtswidrigem Verhalten potentiell Betroffenen ergriffen werden. Besondere Umstände, die ein derartiges Vorgehen ausnahmsweise rechtfertigen könnten, sind weder geltend gemacht noch ersichtlich.

Die Maßnahme ist zudem unver­hält­nismäßig. Zu der Frage, welche Versuche gemacht wurden, der entstandenen Unruhe durch Maßnahmen entge­gen­zu­treten, die die Rechte des Beschwer­de­führers nicht oder in geringerem Ausmaß berühren, wurden nähere Feststellungen nicht getroffen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 68/06 des BVerfG vom 28.07.2006

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss2772

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI