21.11.2024
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Dokument-Nr. 4279

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Bundesverfassungsgericht Urteil19.03.2003

Rückmel­de­ge­bühren der Hochschulen in Baden-Württemberg sind verfas­sungs­widrig

Die im Jahr 1997 an den Hochschulen Baden-Württembergs eingeführte Rückmeldegebühr ist verfas­sungs­widrig. Die Bemessung dieser Gebühr in Höhe von 100 DM (= 51,13 €) überschreitet bei der gewählten Ausgestaltung des gesetzlichen Gebüh­ren­tat­be­stands die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Landes Baden-Württemberg. Dies entschied der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts im Rahmen konkreter Normen­kon­troll­ver­fahren und erklärte die Rechtsgrundlage im baden-württem­ber­gischen Univer­si­täts­gesetz insoweit rückwirkend vom Zeitpunkt des ersten In-Kraft-Tretens an für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig.

Die ebenfalls 1997 in Baden-Württemberg eingeführte Gebühr für die Immatrikulation in Höhe von DM 100 war nicht Gegenstand des verfas­sungs­ge­richt­lichen Verfarens; deren Rechtsgrundlage ist von der Nichti­g­er­klärung ausgenommen. Die Einnahmen aus Immatri­ku­lations-, Rückmelde- und Zulas­sungs­ge­bühren betrugen im Haushaltsjahr 1997 insgesamt rund 39,2 Mio. DM, im Haushaltsjahr 1998 rund 27,9 Mio. DM. Der Einzug der Rückmeldegebühr war in Baden-Württemberg seit 29. Juli 1998 ausgesetzt.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

1. Das Land Baden-Württemberg hat dem Grunde nach die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz für die Erhebung einer Rückmeldegebühr der vorliegend bestimmten Art. Sie ist eine nicht­steu­erliche Abgabe, für die sich die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz aus den allgemeinen Regeln der Art. 70 ff. GG ergibt. Die Rückmeldegebühr ist dem Hochschulwesen und damit der "Kulturhoheit" zuzuordnen, die grundsätzlich in die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz der Länder fällt. Mit der Bemessung der Rückmeldegebühr in Höhe von 100 DM überschreitet der Landes­ge­setzgeber jedoch seine Gesetz­ge­bungs­kom­petenz. Die Höhe des Gebührensatzes widerspricht den Anforderungen, die bei der Erhebung und Bemessung aller nicht­steu­er­lichen Abgaben zu beachten sind. Sie ergeben sich aus der Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundess­taat­lichen Finanz­ver­fassung.

Zu diesem Maßstab der verfas­sungs­recht­lichen Prüfung führt der Senat näher aus: Drei grundlegende Prinzipien der Finanz­ver­fassung begrenzen die Zulässigkeit der Erhebung nicht­steu­er­licher Abgaben: Nicht­steu­erliche Abgaben bedürfen einer besonderen sachlichen Rechtfertigung. Sie müssen sich ihrer Art nach von der Steuer, die voraus­set­zungslos auferlegt und geschuldet wird, deutlich unterscheiden. Bei der Erhebung nicht­steu­er­licher Abgaben muss weiter der Belas­tungs­gleichheit der Abgabe­pflichtigen Rechnung getragen werden. Ferner ist der Grundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplans zu beachten.

Die zentrale Zuläs­sig­keits­an­for­derung an nicht­steu­erliche Abgaben, nämlich ihre besondere sachliche Rechtfertigung, wirkt in zweierlei Richtung. Die Erhebung nicht­steu­er­licher Abgaben ist nicht nur dem Grunde nach, sondern auch der Höhe nach recht­fer­ti­gungs­be­dürftig. Die Bemessung der Gebühr ist verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt, wenn ihre Höhe durch zulässige Gebührenzwecke, die der Gesetzgeber bei der tatbe­stand­lichen Ausgestaltung erkennbar verfolgt, legitimiert ist. Dabei kann es sich um die Zwecke der Kostendeckung, des Vorteils­aus­gleichs, der Verhal­tens­lenkung sowie um soziale Zwecke handeln.

Bei der Gebüh­ren­be­messung besitzt der Gesetzgeber einen Entscheidungs- und Gestal­tungs­spielraum. Zu dessen Wahrung ist die gerichtliche Kontrolldichte eingeschränkt. Eine Gebüh­ren­be­messung ist verfas­sungs­rechtlich jedoch dann nicht sachlich gerechtfertigt, wenn sie in einem "groben Missverhältnis" zu den verfolgten legitimen Gebührenzwecken steht. In erster Linie hat der Gesetzgeber zu entscheiden, welche Gebüh­ren­maßstäbe und Gebührensätze er für eine individuell zurechenbare Leistung aufstellt und welche über die Kostendeckung hinaus­rei­chenden Zwecke er mit einer Gebüh­ren­re­gelung anstrebt. Die verfas­sungs­rechtliche Kontrolle der gesetz­ge­be­rischen Gebüh­ren­be­messung, die ihrerseits komplexe Kalkulationen, Bewertungen, Einschätzungen und Prognosen voraussetzt, darf daher nicht überspannt werden. Der Gesetzgeber darf in Massenverfahren wie regelmäßig bei der Gebüh­re­n­er­hebung genera­li­sierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, die verlässlich und effizient vollzogen werden können.

Nicht jeder der genannten vier Zwecke kann beliebig zur sachlichen Rechtfertigung der konkreten Bemessung einer Gebühr herangezogen werden. Nur dann, wenn legitime Gebührenzwecke nach der tatbe­stand­lichen Ausgestaltung der konkreten Gebüh­ren­re­gelung von einer erkennbaren gesetz­ge­be­rischen Entscheidung getragen werden, sind sie auch geeignet, sachlich rechtfertigende Gründe für die Gebüh­ren­be­messung zu liefern. Dabei gilt der rechts­s­taatliche Grundsatz der Normenklarheit. Der Gebüh­ren­pflichtige muss erkennen können, für welche öffentliche Leistung die Gebühr erhoben wird und welche Zwecke der Gesetzgeber mit der Gebüh­ren­be­messung verfolgt. Zur Normenklarheit gehört auch Normenwahrheit.

2. Diesen finanz­ver­fas­sungs­recht­lichen Anforderungen genügt die im baden-württem­ber­gischen Univer­si­täts­gesetz geregelte Rückmeldegebühr nicht.

Die Bemessung dieser Gebühr steht in einem groben Mißverhältnis zu dem vom Gesetzgeber normierten Gebührenzweck der Kostendeckung. Auch die Zwecke des Vorteils­aus­gleichs, der Verhal­tens­lenkung oder soziale Zwecke können die Höhe des Gebührensatzes sachlich nicht rechtfertigen, da der Gebüh­ren­tat­bestand nach Wortlaut, Systematik und Entste­hungs­ge­schichte eine gesetz­ge­be­rische Entscheidung insoweit nicht hinreichend klar erkennbar macht. Wesentliche Teile der Gebühr werden - funktional wie die Steuer - voraus­set­zungslos erhoben. Die für die Unterscheidung von der Steuer unerlässliche Abhängigkeit der Rückmeldegebühr von einer Gegenleistung geht infolge ihrer überhöhten Bemessung verloren. Die Rückmeldegebühr tritt insoweit als Mittel der staatlichen Einnah­men­er­zielung in Konkurrenz zur Steuer. Im Einzelnen führt der Senat hierzu aus:

Der Landes­ge­setzgeber verfolgte erkennbar den legitimen Gebührenzweck, Einnahmen zu erzielen, um die speziellen Kosten für die Bearbeitung jeder Rückmeldung zu decken. Diese betragen bei den Univer­si­täts­ver­wal­tungen der Ausgangs­ver­fahren durch­schnittlich 8,33 DM. Damit kann der vom Gesetzgeber mit dem Gebüh­ren­tat­bestand geregelte Zweck der Kostendeckung die Gebührenhöhe von 100 DM nur zu einem geringen Teil sachlich rechtfertigen.

Die Rückmeldegebühr lässt sich auch nicht als eine allgemeine Verwal­tungs­gebühr zur Deckung aller Verwal­tungs­kosten der Univer­si­täts­ver­waltung sowie sonstiger Einrichtungen der Universität für studen­ten­be­zogene Leistungen rechtfertigen. Dagegen spricht bereits der Wortlaut der Regelung, wonach die Gebühr "für die Bearbeitung jeder Rückmeldung", nicht aber "bei" jeder Rückmeldung zu entrichten ist. Hätte der Gesetzgeber Kosten­de­ckungs­zwecke verfolgen wollen, die über die speziellen Kosten für die Bearbeitung der Rückmeldung hinausgehen, hätte er dies nach dem Grundsatz der Normenklarheit im Gebüh­ren­tat­bestand mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck bringen müssen. Weder eine systematische Auslegung noch die Geset­zes­ma­te­rialien ergeben Anhaltspunkte dafür, dass mit der Gebüh­ren­re­gelung über die Kosten der Bearbeitung der Rückmeldung hinausgehende Kosten für Verwal­tungs­leis­tungen der Univer­si­täts­ver­waltung und ihre Einrichtungen gedeckt werden sollten.

Die Höhe der Rückmeldegebühr lässt sich auch nicht mit einem Ausgleich von Vorteilen rechtfertigen, die infolge der Bearbeitung der Rückmeldung mit der Aufrecht­er­haltung der Rechtsstellung "als Studierender" verbunden sind und die sich durch die mitglied­s­chaft­lichen Rechte zum Besuch von Lehrver­an­stal­tungen und zur Nutzung der Univer­si­täts­ein­rich­tungen zum Zwecke des Studiums ergeben. Wortlaut, Entste­hungs­ge­schichte und systematische Auslegung der Rückmel­de­ge­büh­ren­re­gelung sprechen gegen die Auslegung im Sinne einer "versteckten Studiengebühr".

Soweit die Abschöpfung von "monetären Vergünstigungen" auf Grund von Leistungen anderer öffentlicher Träger oder privater Dritter im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren eine Rolle gespielt haben sollte, sind darauf ausgerichtete Zwecke jedenfalls nicht Gesetz geworden.

Zwecke der Verhal­tens­lenkung oder die Verfolgung sozialer Zwecke scheiden bei der Rückmeldegebühr zur sachlichen Rechtfertigung aus.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 23/03 des BVerfG vom 19.03.2003

der Leitsatz

1. Die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanz­ver­fassung begründet verbindliche Vorgaben auch für die Gebühren als Erschei­nungsform der nicht­steu­er­lichen Abgaben. Die grund­ge­setzliche Finanz­ver­fassung verlöre ihren Sinn und ihre Funktion, wenn unter Rückgriff auf die Sachge­setz­ge­bungs­kom­pe­tenzen beliebig hohe Gebühren erhoben werden könnten; die Bemessung bedarf kompe­tenz­rechtlich im Verhältnis zur Steuer einer besonderen, unter­schei­dungs­kräftigen Legitimation (Anschluss an BVerfGE 93, 319 ff.).

2. Nur dann, wenn legitime Gebührenzwecke nach der tatbe­stand­lichen Ausgestaltung der Gebüh­ren­re­gelung von einer erkennbaren gesetz­ge­be­rischen Entscheidung getragen werden, sind sie auch geeignet, sachlich rechtfertigende Gründe für die Gebüh­ren­be­messung zu liefern. Wählt der Gesetzgeber einen im Wortlaut eng begrenzten Gebüh­ren­tat­bestand, kann nicht geltend gemacht werden, er habe auch noch weitere, ungenannte Gebührenzwecke verfolgt.

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