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Bundesverfassungsgericht Urteil17.10.2006
Agrarmarktförderung: Bund und Länder müssen Rückzahlungen an die EU leistenÜber den jeweiligen Anteil entscheidet das Bundesverwaltungsgericht
In einer Verfassungsstreitigkeit zwischen den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg einerseits und dem Bund andererseits ging um die Frage, ob der Bund berechtigt ist, von den Ländern die Erstattung bestimmter Beträge zu verlangen, die der Bundesrepublik Deutschland von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit der gemeinschaftsrechtlichen Agrarmarktförderung auferlegt wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass alle Beteiligten Rückzahlungen leisten müssen.
Hintergrund:
Der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft finanziert gemeinschaftsweit die Kosten der gemeinschaftlichen Interventionen zur Regulierung der Agrarmärkte. Zu diesen Maßnahmen zählen auch die hier in Rede stehenden Flächenprämien, die an die Erzeuger landwirtschaftlicher Kulturpflanzen gezahlt werden, und Tierprämien, etwa für die Erhaltung eines Mutterkuhbestandes. Die für solche Fördermaßnahmen erforderlichen finanziellen Mittel stellt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften den Mitgliedstaaten in Form von Vorschüssen zur Verfügung, dies allerdings mit einer zeitlichen Verzögerung. Bis zur Überweisung der Gelder müssen die erforderlichen Mittel zunächst von den Mitgliedstaaten verauslagt werden.
In der Bundesrepublik Deutschland kommt der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung die Aufgabe einer entsprechenden Kreditaufnahme zu. Die aufgenommenen Kredite werden an die Bundeskasse überwiesen. Die Länder, die die gemeinschaftsrechtlich bestimmten Aufgaben zur Regulierung der Agrarmärkte wahrnehmen, werden ermächtigt, Zahlungen an die begünstigten Landwirte zu Lasten der Bundeskasse zu veranlassen.
Über die endgültige Bewilligung der vorschussweise gewährten Mittel an den jeweiligen Mitgliedstaat befindet die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Rahmen einer jährlichen Rechnungsabschlussentscheidung. Dabei bestimmt die Kommission auch die Ausgaben, die von der gemeinschaftlichen Finanzierung auszuschließen sind. Dies ist dann der Fall, wenn sie feststellt, dass Ausgaben nicht in Übereinstimmung mit den Gemeinschaftsvorschriften getätigt worden sind (Anlastung). Die Höhe der von der gemeinschaftlichen Finanzierung auszuschließenden Ausgaben bestimmt sich nach einem System von Pauschalkorrekturen. Je nach Schwere des Verstoßes gegen die einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften werden 2 % bis 25 % der betroffenen Ausgaben von der Erstattung ausgeschlossen.
Verfahren 2 BvG 1/04 (Land Mecklenburg-Vorpommern)
Hintergrund dieses Verfahrens sind gemeinschaftsrechtlich finanzierte Ausgleichszahlungen in Gestalt von Flächenprämien für die Erzeuger landwirtschaftlicher Kulturpflanzen.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften schloss die Bundesrepublik Deutschland im Juli 2000 mit einem Betrag von 34.008.658,12 DM von der gemeinschaftlichen Finanzierung der Ausgaben aus. Grund der Anlastung waren unter anderem Mängel bei der Umsetzung des Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems in Mecklenburg- Vorpommern, die zu einer Pauschalkorrektur von 5 % führten.
Daraufhin teilte das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten dem Land Mecklenburg-Vorpommern mit, dass von diesem Anlastungsbetrag 25.127.094,12 DM auf das Land entfielen, und forderte es zur Zahlung auf. Nachdem das Land nicht zahlte, befriedigte sich der Bund teilweise durch Aufrechnungen. Im Februar 2004 teilte der Bund dem Land mit, dass er wegen der Anlastung erneut die Aufrechnung gegenüber Ansprüchen des Landes in Höhe von 59.025,79 EUR und von 101.379,36 EUR erkläre.
Gegen diese beiden Aufrechnungserklärungen wendet sich das Land Mecklenburg-Vorpommern im vorliegenden Verfahren. Ein Anspruch des Bundes auf der Grundlage von Art. 104a Abs. 5 Satz 1 zweiter Halbsatz GG, wonach der Bund und die Länder im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung haften, bestehe nicht. Es fehle an dem nach Satz 2 dieser Vorschrift erforderlichen Ausführungsgesetz. Zudem sei diese Norm nicht auf die europarechtliche Ebene anwendbar, weil sie nur auf den Vollzug nationalen Rechts bezogen sei. Ferner fehle es an dem erforderlichen Verschulden. Auch ein verschuldensunabhängiger Erstattungsanspruch auf der Grundlage von Art. 104a Abs. 1 GG, wonach der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, scheide aus. Letzteren sieht der Bund als gegeben an, da ihm keine Finanzierungsverantwortung obliege. Diese sei vielmehr den vollziehenden Ländern zugewiesen.
Verfahren 2 BvG 2/04 (Land Brandenburg)
Hintergrund dieses Verfahrens sind gemeinschaftsrechtlich finanzierte Prämienzahlungen im Rindfleischsektor.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften schloss die Bundesrepublik Deutschland im Juli 2001 mit einem Betrag von 6.366.969 DM von der gemeinschaftlichen Finanzierung dieser Ausgaben aus. Hintergrund der Anlastung waren festgestellte Mängel von Kontrollmaßnahmen in den Ländern Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig Holstein. Die Mängel betrafen die Inkompatibilität von Datenbanken, unzureichende Bestandsregister sowie die fehlende Festlegung einer Altersgrenze für die Prämienfähigkeit einer Mutterkuh. Festgestellt wurden dabei auch eine unzureichende Koordinierung seitens der Bundesbehörden und das Fehlen eines nationalen Rinderkennzeichnungssystems. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften erstreckte deshalb die Pauschalkorrektur von 2 % auch auf die anderen Länder mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern, das hier gleichwertige Kontrollen vorgenommen hatte. In Bezug auf Schleswig- Holstein wurde eine Pauschalkorrektur von 5 % vorgenommen.
Nachdem die Bundesrepublik Deutschland mit einer Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften erfolglos blieb, forderte das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten das Land Brandenburg auf, den anteilig auf ihn entfallenen Anlastungsbetrag von 422.233,53 EUR an die Bundeskasse zu zahlen. Gegen diese Zahlungsaufforderung des Bundes wendet sich das Land Brandenburg ebenfalls mit der Begründung, der Bund berühme sich zu Unrecht eines - verschuldensunabhängigen - Zahlungsanspruchs.
Entscheidung
Der Rückgriff des Bundes gegen ein Land wegen Anlastungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften richtet sich nach Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG. Insoweit ist die Norm eine unmittelbar anwendbare Haftungsgrundlage. Die Haftung ist verschuldensunabhängig. Allerdings hat sich der Bund in diesen Fällen mögliche Mitverursachungsbeiträge anrechnen zu lassen. Dies entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts. Damit steht der Bundesrepublik Deutschland gegen die Länder Mecklenburg- Vorpommern und Brandenburg dem Grunde nach ein Anspruch auf Erstattung der Beträge zu, die der Bundesrepublik Deutschland von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit der gemeinschaftsrechtlichen Agrarmarktförderung auferlegt wurden.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Der Anwendungsbereich des Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG ist auch dann eröffnet, wenn durch Anlastungsentscheidungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften dem Bund ein Schaden entsteht.
Nach dem Wortlaut der Norm haften Bund und Länder im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung. Ein Anlass, ihren Anwendungsbereich auf die Verletzung national gesetzten Rechts zu beschränken, besteht auf der Grundlage dieses Wortlauts nicht. Die ordnungsmäßige Verwaltung umfasst sämtliche diesen Gebietskörperschaften obliegenden staatlichen Aufgaben, zu denen auch der Vollzug des Gemeinschaftsrechts gehört. Ein sachlich gerechtfertigter Grund, den Bund oder die Länder bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht von einer innerstaatlichen Haftung freizustellen, ist nicht ersichtlich.
2. Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG ist in den Fällen der gemeinschaftsrechtlichen Anlastung auch ohne ein Bundesgesetz nach Art. 104a Abs. 5 Satz 2 GG eine unmittelbar anwendbare Haftungsgrundlage.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG für einen Kernbereich der Haftung, der sich auf vorsätzliche Schädigungen beschränkt, eine unmittelbare Anspruchsgrundlage dar. Dieser Haftungskernrechtsprechung kann jedenfalls insoweit gefolgt werden, als sich sowohl dem Wortlaut des Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG als auch dessen Entstehungsgeschichte deutliche Hinweise darauf entnehmen lassen, dass der Verfassungsgeber im Bund-Länder-Verhältnis eine Haftung begründen wollte. Die Frage, ob die Beschränkung einer Haftung ohne Ausführungsgesetz auf einen Kernbereich zwingend ist, bedarf für die Streitsachen jedoch keiner allgemeinen Antwort. Jedenfalls gebieten die Funktion und die strukturelle Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Anlastung eine vom Verschuldenserfordernis gelöste innerstaatliche Zuweisung der Verantwortlichkeit. Die verschuldensunabhängige Ausgestaltung der Haftung beschreibt für die Anlastungsfälle einen Mindeststandard einer Haftung, den Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG gewährleisten will.
Die gemeinschaftsrechtlichen Anlastungen sind ein Haftungsinstrument, das rein objektiven, von jeglichen Verschuldensgesichtspunkten gelösten Grundsätzen folgt. Die Kommission wie auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften stellen im Rahmen der Prüfung der sachlichen Finanzierungsvoraussetzungen allein auf die Gemeinschaftskonformität der von den nationalen Stellen getätigten, mit Ausgaben verbundenen Maßnahmen ab. Alle objektiv gemeinschaftsrechtswidrigen Ausgaben bleiben von der Übernahme ausgeschlossen. Auf eine subjektive Vorwerfbarkeit kommt es dabei nicht an. Dies kann nicht ohne Rückwirkung auf die Auslegung des Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG als innerstaatliches Gegenüber bleiben. Würde bei der innerstaatlichen Zuordnung der der Bundesrepublik Deutschland auf der supranationalen Ebene angelasteten Beträge auf Verschuldenskriterien als maßgebliches Zuordnungsprinzip zurückgegriffen, so wäre dies ein Systembruch ohne sachliche Rechtfertigung. Nur der Gleichlauf der gemeinschaftsrechtlichen und innerstaatlichen Zuordnungsprinzipien gewährleistet eine sachgerechte und folgerichtige Verteilung der Finanzlast auf ihre innerstaatlichen Verursacher. In den Fällen gemeinschaftsrechtlicher Anlastungen ist das Normsetzungsermessen des Gesetzgebers daher dergestalt eingeschränkt, dass es ihm verwehrt ist, innerstaatlich eine Verschuldenshaftung anzuordnen. Entscheidend für die Anlastung ist allein, dass die Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Kontrollregeln oder bestimmter Mindestanforderungen unzureichend oder fehlerhaft war.
3. Allerdings hat sich der Bund in diesen Fällen mögliche Mitverursachungsbeiträge anrechnen zu lassen. Der Wortlaut des Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG, wonach der Bund und die Länder „im Verhältnis zueinander“ für eine ordnungsmäßige Verwaltung haften, macht deutlich, dass den Bund unter den gleichen Voraussetzungen wie die Länder eine Verantwortlichkeit treffen kann.
Die Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang im konkreten Fall eine Mitverantwortung des Bundes unter dem Gesichtspunkt der unzureichenden Wahrnehmung der ihm nach dem Gemeinschaftsrecht obliegenden Koordinierungspflicht in Betracht kommt, ist aber nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Nach der nunmehr erfolgten Klärung des Anspruchsgrundes obliegt es den Beteiligten, die Höhe des dem Bund zustehenden Erstattungsbetrages vor dem Bundesverwaltungsgericht feststellen zu lassen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 17.10.2006
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 46+95/06 des BVerfG vom 17.10.2006
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