15.11.2024
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Dokument-Nr. 3195

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Urteil17.10.2006Bundesverfassungsgericht2 BvG 1/04, 2 BvG 2/04
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Bundesverfassungsgericht Urteil17.10.2006

Agrar­ma­rkt­för­derung: Bund und Länder müssen Rückzahlungen an die EU leistenÜber den jeweiligen Anteil entscheidet das Bundes­ver­wal­tungs­gericht

In einer Verfas­sungs­strei­tigkeit zwischen den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg einerseits und dem Bund andererseits ging um die Frage, ob der Bund berechtigt ist, von den Ländern die Erstattung bestimmter Beträge zu verlangen, die der Bundesrepublik Deutschland von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit der gemein­schafts­recht­lichen Agrar­ma­rkt­för­derung auferlegt wurden. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass alle Beteiligten Rückzahlungen leisten müssen.

Hintergrund:

Der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft finanziert gemein­schaftsweit die Kosten der gemein­schaft­lichen Interventionen zur Regulierung der Agrarmärkte. Zu diesen Maßnahmen zählen auch die hier in Rede stehenden Flächenprämien, die an die Erzeuger landwirt­schaft­licher Kulturpflanzen gezahlt werden, und Tierprämien, etwa für die Erhaltung eines Mutter­kuh­be­standes. Die für solche Fördermaßnahmen erforderlichen finanziellen Mittel stellt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften den Mitgliedstaaten in Form von Vorschüssen zur Verfügung, dies allerdings mit einer zeitlichen Verzögerung. Bis zur Überweisung der Gelder müssen die erforderlichen Mittel zunächst von den Mitgliedstaaten verauslagt werden.

In der Bundesrepublik Deutschland kommt der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung die Aufgabe einer entsprechenden Kreditaufnahme zu. Die aufgenommenen Kredite werden an die Bundeskasse überwiesen. Die Länder, die die gemein­schafts­rechtlich bestimmten Aufgaben zur Regulierung der Agrarmärkte wahrnehmen, werden ermächtigt, Zahlungen an die begünstigten Landwirte zu Lasten der Bundeskasse zu veranlassen.

Über die endgültige Bewilligung der vorschussweise gewährten Mittel an den jeweiligen Mitgliedstaat befindet die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Rahmen einer jährlichen Rechnungs­ab­schlus­s­ent­scheidung. Dabei bestimmt die Kommission auch die Ausgaben, die von der gemein­schaft­lichen Finanzierung auszuschließen sind. Dies ist dann der Fall, wenn sie feststellt, dass Ausgaben nicht in Übereinstimmung mit den Gemein­schafts­vor­schriften getätigt worden sind (Anlastung). Die Höhe der von der gemein­schaft­lichen Finanzierung auszu­schlie­ßenden Ausgaben bestimmt sich nach einem System von Pauscha­l­kor­rekturen. Je nach Schwere des Verstoßes gegen die einschlägigen Gemein­schafts­vor­schriften werden 2 % bis 25 % der betroffenen Ausgaben von der Erstattung ausgeschlossen.

Verfahren 2 BvG 1/04 (Land Mecklenburg-Vorpommern)

Hintergrund dieses Verfahrens sind gemein­schafts­rechtlich finanzierte Ausgleichs­zah­lungen in Gestalt von Flächenprämien für die Erzeuger landwirt­schaft­licher Kulturpflanzen.

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften schloss die Bundesrepublik Deutschland im Juli 2000 mit einem Betrag von 34.008.658,12 DM von der gemein­schaft­lichen Finanzierung der Ausgaben aus. Grund der Anlastung waren unter anderem Mängel bei der Umsetzung des Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems in Mecklenburg- Vorpommern, die zu einer Pauscha­l­kor­rektur von 5 % führten.

Daraufhin teilte das Bundes­mi­nis­terium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten dem Land Mecklenburg-Vorpommern mit, dass von diesem Anlas­tungs­betrag 25.127.094,12 DM auf das Land entfielen, und forderte es zur Zahlung auf. Nachdem das Land nicht zahlte, befriedigte sich der Bund teilweise durch Aufrechnungen. Im Februar 2004 teilte der Bund dem Land mit, dass er wegen der Anlastung erneut die Aufrechnung gegenüber Ansprüchen des Landes in Höhe von 59.025,79 EUR und von 101.379,36 EUR erkläre.

Gegen diese beiden Aufrech­nungs­er­klä­rungen wendet sich das Land Mecklenburg-Vorpommern im vorliegenden Verfahren. Ein Anspruch des Bundes auf der Grundlage von Art. 104a Abs. 5 Satz 1 zweiter Halbsatz GG, wonach der Bund und die Länder im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung haften, bestehe nicht. Es fehle an dem nach Satz 2 dieser Vorschrift erforderlichen Ausfüh­rungs­gesetz. Zudem sei diese Norm nicht auf die europa­rechtliche Ebene anwendbar, weil sie nur auf den Vollzug nationalen Rechts bezogen sei. Ferner fehle es an dem erforderlichen Verschulden. Auch ein verschul­den­su­n­ab­hängiger Erstat­tungs­an­spruch auf der Grundlage von Art. 104a Abs. 1 GG, wonach der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, scheide aus. Letzteren sieht der Bund als gegeben an, da ihm keine Finan­zie­rungs­ver­ant­wortung obliege. Diese sei vielmehr den vollziehenden Ländern zugewiesen.

Verfahren 2 BvG 2/04 (Land Brandenburg)

Hintergrund dieses Verfahrens sind gemein­schafts­rechtlich finanzierte Prämi­en­zah­lungen im Rindfleisch­sektor.

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften schloss die Bundesrepublik Deutschland im Juli 2001 mit einem Betrag von 6.366.969 DM von der gemein­schaft­lichen Finanzierung dieser Ausgaben aus. Hintergrund der Anlastung waren festgestellte Mängel von Kontroll­maß­nahmen in den Ländern Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig Holstein. Die Mängel betrafen die Inkom­pa­ti­bilität von Datenbanken, unzureichende Bestands­re­gister sowie die fehlende Festlegung einer Altersgrenze für die Prämi­en­fä­higkeit einer Mutterkuh. Festgestellt wurden dabei auch eine unzureichende Koordinierung seitens der Bundesbehörden und das Fehlen eines nationalen Rinder­kenn­zeich­nungs­systems. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften erstreckte deshalb die Pauscha­l­kor­rektur von 2 % auch auf die anderen Länder mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern, das hier gleichwertige Kontrollen vorgenommen hatte. In Bezug auf Schleswig- Holstein wurde eine Pauscha­l­kor­rektur von 5 % vorgenommen.

Nachdem die Bundesrepublik Deutschland mit einer Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften erfolglos blieb, forderte das Bundes­mi­nis­terium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten das Land Brandenburg auf, den anteilig auf ihn entfallenen Anlas­tungs­betrag von 422.233,53 EUR an die Bundeskasse zu zahlen. Gegen diese Zahlungs­auf­for­derung des Bundes wendet sich das Land Brandenburg ebenfalls mit der Begründung, der Bund berühme sich zu Unrecht eines - verschul­den­su­n­ab­hängigen - Zahlungs­an­spruchs.

Entscheidung

Der Rückgriff des Bundes gegen ein Land wegen Anlastungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften richtet sich nach Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG. Insoweit ist die Norm eine unmittelbar anwendbare Haftungs­grundlage. Die Haftung ist verschul­den­su­n­ab­hängig. Allerdings hat sich der Bund in diesen Fällen mögliche Mitver­ur­sa­chungs­beiträge anrechnen zu lassen. Dies entschied der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts. Damit steht der Bundesrepublik Deutschland gegen die Länder Mecklenburg- Vorpommern und Brandenburg dem Grunde nach ein Anspruch auf Erstattung der Beträge zu, die der Bundesrepublik Deutschland von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit der gemein­schafts­recht­lichen Agrar­ma­rkt­för­derung auferlegt wurden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Der Anwen­dungs­bereich des Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG ist auch dann eröffnet, wenn durch Anlas­tungs­ent­schei­dungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften dem Bund ein Schaden entsteht.

Nach dem Wortlaut der Norm haften Bund und Länder im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung. Ein Anlass, ihren Anwen­dungs­bereich auf die Verletzung national gesetzten Rechts zu beschränken, besteht auf der Grundlage dieses Wortlauts nicht. Die ordnungsmäßige Verwaltung umfasst sämtliche diesen Gebiets­kör­per­schaften obliegenden staatlichen Aufgaben, zu denen auch der Vollzug des Gemein­schafts­rechts gehört. Ein sachlich gerecht­fer­tigter Grund, den Bund oder die Länder bei der Anwendung von Gemein­schaftsrecht von einer inner­staat­lichen Haftung freizustellen, ist nicht ersichtlich.

2. Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG ist in den Fällen der gemein­schafts­recht­lichen Anlastung auch ohne ein Bundesgesetz nach Art. 104a Abs. 5 Satz 2 GG eine unmittelbar anwendbare Haftungs­grundlage.

Nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts stellt Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG für einen Kernbereich der Haftung, der sich auf vorsätzliche Schädigungen beschränkt, eine unmittelbare Anspruchs­grundlage dar. Dieser Haftungs­kern­recht­sprechung kann jedenfalls insoweit gefolgt werden, als sich sowohl dem Wortlaut des Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG als auch dessen Entste­hungs­ge­schichte deutliche Hinweise darauf entnehmen lassen, dass der Verfas­sungsgeber im Bund-Länder-Verhältnis eine Haftung begründen wollte. Die Frage, ob die Beschränkung einer Haftung ohne Ausfüh­rungs­gesetz auf einen Kernbereich zwingend ist, bedarf für die Streitsachen jedoch keiner allgemeinen Antwort. Jedenfalls gebieten die Funktion und die strukturelle Ausgestaltung der gemein­schafts­recht­lichen Anlastung eine vom Verschul­den­s­er­for­dernis gelöste innerstaatliche Zuweisung der Verant­wort­lichkeit. Die verschul­den­su­n­ab­hängige Ausgestaltung der Haftung beschreibt für die Anlastungsfälle einen Mindeststandard einer Haftung, den Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG gewährleisten will.

Die gemein­schafts­recht­lichen Anlastungen sind ein Haftungs­in­strument, das rein objektiven, von jeglichen Verschul­dens­ge­sichts­punkten gelösten Grundsätzen folgt. Die Kommission wie auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften stellen im Rahmen der Prüfung der sachlichen Finan­zie­rungs­vor­aus­set­zungen allein auf die Gemein­schafts­kon­formität der von den nationalen Stellen getätigten, mit Ausgaben verbundenen Maßnahmen ab. Alle objektiv gemein­schafts­rechts­widrigen Ausgaben bleiben von der Übernahme ausgeschlossen. Auf eine subjektive Vorwerfbarkeit kommt es dabei nicht an. Dies kann nicht ohne Rückwirkung auf die Auslegung des Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG als inner­staat­liches Gegenüber bleiben. Würde bei der inner­staat­lichen Zuordnung der der Bundesrepublik Deutschland auf der supranationalen Ebene angelasteten Beträge auf Verschul­den­s­kri­terien als maßgebliches Zuord­nungs­prinzip zurückgegriffen, so wäre dies ein Systembruch ohne sachliche Rechtfertigung. Nur der Gleichlauf der gemein­schafts­recht­lichen und inner­staat­lichen Zuord­nungs­prin­zipien gewährleistet eine sachgerechte und folgerichtige Verteilung der Finanzlast auf ihre inner­staat­lichen Verursacher. In den Fällen gemein­schafts­recht­licher Anlastungen ist das Normset­zungs­er­messen des Gesetzgebers daher dergestalt eingeschränkt, dass es ihm verwehrt ist, innerstaatlich eine Verschul­den­s­haftung anzuordnen. Entscheidend für die Anlastung ist allein, dass die Anwendung gemein­schafts­recht­licher Kontrollregeln oder bestimmter Minde­st­an­for­de­rungen unzureichend oder fehlerhaft war.

3. Allerdings hat sich der Bund in diesen Fällen mögliche Mitver­ur­sa­chungs­beiträge anrechnen zu lassen. Der Wortlaut des Art. 104a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 GG, wonach der Bund und die Länder „im Verhältnis zueinander“ für eine ordnungsmäßige Verwaltung haften, macht deutlich, dass den Bund unter den gleichen Voraussetzungen wie die Länder eine Verant­wort­lichkeit treffen kann.

Die Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang im konkreten Fall eine Mitver­ant­wortung des Bundes unter dem Gesichtspunkt der unzureichenden Wahrnehmung der ihm nach dem Gemein­schaftsrecht obliegenden Koordi­nie­rungs­pflicht in Betracht kommt, ist aber nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Nach der nunmehr erfolgten Klärung des Anspruchs­grundes obliegt es den Beteiligten, die Höhe des dem Bund zustehenden Erstat­tungs­be­trages vor dem Bundes­ver­wal­tungs­gericht feststellen zu lassen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 46+95/06 des BVerfG vom 17.10.2006

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