18.10.2024
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Dokument-Nr. 13918

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Beschluss04.07.2012Bundesverfassungsgericht2 BvC 1/11, 2 BvC 2/11
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JuS 2013, 376Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2013, Seite: 376
  • NVwZ 2012, 1167Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 2012, Seite: 1167
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss04.07.2012

Wahlbe­rech­tigung von Auslands­deutschen: Voraussetzung "drei Monate ununterbrochen in Deutschland" gewohnt zu haben für Wahlbe­rech­tigung verfas­sungs­widrigBVerfG zum Wahlrecht von Auslands­deutschen ohne dauerhaften Wohnsitz in Deutschland

Die im Ausland lebenden Deutschen sind gemäß § 12 Abs. 2 des Bundes­wahl­ge­setzes (BWG) in der hier maßgeblichen, gegenwärtigen Fassung wahlberechtigt, wenn sie vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland gewohnt haben oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Dies hat das Bundes­verfassungs­gericht entschieden.

Das Sesshaf­tig­keits­er­for­dernis hatte der Gesetzgeber in der Vergangenheit schrittweise gelockert. Die Wahlbe­rech­tigung von Auslands­deutschen setzte zunächst zusätzlich zum Erfordernis des früheren dreimonatigen Aufenthalts voraus, dass seit ihrem Fortzug nicht mehr als zehn Jahre verstrichen waren. Später wurde die Fortzugsfrist für Auslandsdeutsche außerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats auf 25 Jahre heraufgesetzt. Schließlich verzichtete der Gesetzgeber gänzlich auf eine Differenzierung zwischen Auslands­deutschen innerhalb und außerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats und auf eine Fortzugsfrist.

Bundes­wahl­gesetz verstoße gegen Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl

Die Beschwer­de­füh­re­rinnen in den vorliegenden Verfahren wurden 1982 in Belgien geboren und sind deutsche Staats­an­ge­hörige. Da sie zu keinem Zeitpunkt drei Monate ununterbrochen in Deutschland gewohnt hatten, wurde ihnen die Teilnahme an der Bundestagswahl 2009 versagt. Mit ihren Wahlprü­fungs­be­schwerden rügen sie, dass die Voraussetzung vorheriger Sesshaftigkeit in der Bundesrepublik Deutschland gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verstoße.

§ 12 Abs. 2 Satz 1 BWG mit Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unvereinbar und nichtig

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat entschieden, dass die Ausgestaltung der Wahlbe­rech­tigung der Auslands­deutschen durch § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar und nichtig ist. Der festgestellte Wahlfehler führt jedoch nicht zur Ungültigkeit der Bundestagswahl 2009.

Bei Ausgestaltung aktiver und passiver Wahlbe­rech­tigung nur eng bemessener Spielraum für Gesetzgeber

1. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verbürgt die aktive und passive Wahlbe­rech­tigung aller Staatsbürger. Er ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl des Deutschen Bundestages zu verstehen. Daher bleibt dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der aktiven und passiven Wahlbe­rech­tigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen. Diffe­ren­zie­rungen können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind. Zu den möglichen Recht­fer­ti­gungs­gründen zählt insbesondere das mit demokratischen Wahlen verfolgte Ziel, den Charakter der Wahl als Integra­ti­o­ns­vorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern. So kann ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommu­ni­ka­ti­o­ns­prozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht.

Ungleich­be­handlung innerhalb der Auslands­deutschen

2. Nach diesen Maßstäben verletzt § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Die Vorschrift bewirkt eine Ungleich­be­handlung innerhalb der Gruppe der Auslands­deutschen, da sie diejenigen Auslands­deutschen, die das Erfordernis eines früheren dreimonatigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nicht erfüllen, das aktive Wahlrecht versagt. Diese Ungleich­be­handlung ist nicht durch einen zureichenden Grund legitimiert.

Voraus­zu­setzende Vertrautheit mit politischen Verhältnisses durch dreimonatigen Daueraufenthalt nicht gesichert

Es ist zwar verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber bei der Wahlbeteiligung der Auslands­deutschen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nicht voll verwirklicht, weil nach seiner Einschätzung die Fähigkeit, am politischen Willensbildungs- und Meinungsprozess mitzuwirken, ein Mindestmaß an persönlich und unmittelbar erworbener Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in Deutschland erfordert. Die Anknüpfung der Wahlbe­rech­tigung allein an den früheren dreimonatigen Daueraufenthalt im Bundesgebiet verstößt aber gegen das Gebot, den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und die Kommu­ni­ka­ti­o­ns­funktion der Wahl zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Zum einen kann das gesetz­ge­be­rische Ziel, die für die Wahlteilnahme voraus­zu­setzende Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern, allein mit dem Erfordernis eines früheren dreimonatigen Aufenthalts in Deutschland nicht erreicht werden. Denn danach ist einer nicht zu vernach­läs­si­genden Zahl von Auslands­deutschen die Teilnahme an der Wahl gestattet, die entweder eine solche Vertrautheit gar nicht erlangen konnten, weil sie zum Zeitpunkt ihres Aufenthalts in Deutschland aufgrund ihres Alters noch gar nicht die Reife und Einsichts­fä­higkeit hierzu hatten, oder aber die Bundesrepublik Deutschland vor so langer Zeit verlassen haben, dass ihre seinerzeit erworbenen Erfahrungen den aktuellen politischen Verhältnissen nicht mehr entsprechen. Zudem ist das Erfordernis eines früheren dreimonatigen Aufenthalts zwar geeignet, deutsche Staats­an­ge­hörige ohne jede weitere Beziehung zu Deutschland von der Wahlteilnahme auszuschließen. Zugleich bewirkt es aber, dass Deutsche an den Wahlen zum Deutschen Bundestag nicht teilnehmen können, die typischerweise mit den politischen Verhältnissen vertraut und von ihnen betroffen sind, wie z. B. Auslands­deutsche, die als „Grenzgänger“ ihre Berufstätigkeit in Deutschland ausüben.

Häufung der Wahlbe­rech­tigten in bestimmten Wahlkreisen sollen durch Regelung verhindert werden

Die Regelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG kann schließlich auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass andernfalls eine Häufung der Wahlbe­rech­tigten in bestimmten Wahlkreisen oder eine nennenswerte Änderung der Wählerstruktur eintreten würde. Es lässt sich bereits nicht feststellen, dass durch die Anknüpfung an einen früheren dreimonatigen Aufenthalt in der „Wegzugsgemeinde“ eine gleichmäßige Verteilung der wahlbe­rech­tigten Auslands­deutschen auf die Wahlkreise zuverlässig gesichert wäre. Die Anknüpfung der Wahlbe­rech­tigung an einen vorherigen Aufenthalt im Bundesgebiet ist auch nicht erforderlich, um die Entstehung ungleichgroßer Wahlkreise zu verhindern, weil nicht ersichtlich ist, dass dieses Ziel mit anderen, weniger eingreifenden Zuord­nungs­kri­terien nicht ebenso zuverlässig erreicht werden könnte.

Sondervotum der Richterin

Der Senatsbeschluss weicht in überraschender und inhaltlich nicht überzeugender Weise von der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts ab.

Der Entwicklung von Mobilität und Kommu­ni­ka­ti­o­ns­technik, in deren Folge die früheren Anknüpfungen des Wahlrechts an einen aktuell bestehenden oder nur wenige Jahre zurückliegenden mindestens dreimonatigen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Wahlgebiet an Plausibilität eingebüßt haben, hat der Gesetzgeber durch sukzessiven Abbau der Wahlrechts­be­schrän­kungen für Auslands­deutsche Rechnung getragen. Die übriggebliebene Anforderung eines mindestens dreimonatigen Aufenthalts im Wahlgebiet, gleich wie lange er zurückliegt, mag zwar als alleiniges Kriterium für wahlrechts­re­le­vantes Kommu­ni­ka­ti­o­ns­po­tential wenig einleuchten. Darauf kommt es aber nicht an. Kommunikation ist für die Demokratie in der Tat essentiell. Was den Zusammenhang angeht, der durch demokratische Wahlen etabliert wird und etabliert werden soll, ist aber nicht der Kommu­ni­ka­ti­o­ns­zu­sam­menhang, sondern der Verant­wor­tungs­zu­sam­menhang der grundlegendere - ein Verant­wor­tungs­zu­sam­menhang der wirklichen, ernsten Art, in dem nicht nur Worte zu wechseln, sondern auch, von Wählern wie Gewählten, Konsequenzen des eigenen Entschei­dungs­ver­haltens zu tragen sind. Je öfter und weiter formelle Zugehörigkeit - in Deutschland der Deutschenstatus gemäß Art. 116 Abs. 1 GG - und materielle Betroffenheit von der Staatsgewalt ausein­an­der­fallen, desto mehr entspricht es daher dem Sinn demokratischer Wahlen, die Wahlbe­rech­tigung nicht allein an die formelle Zugehörigkeit, sondern darüber hinaus daran zu knüpfen, dass die Wählenden mit ihrer Wahlent­scheidung auf die politische Gestaltung eigener, nicht fremder, Lebens­ver­hältnisse Einfluss nehmen. Die Rechtfertigung für die Dreimonatsregel liegt darin, dass sie das dazu notwendige Mindestmaß an realer Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland wahren soll. In dieser Diffe­ren­zie­rungs­funktion berücksichtigt die Dreimonatsregel einerseits, dass auch bei langjährig im Ausland wohnhaften Deutschen noch Bindungen an Deutschland gegeben sein können, die die deutsche res publica zu ihrer Sache machen. Andererseits verhindert sie, dass das Wahlrecht sich über die durch Abstammung vermittelte Staats­an­ge­hö­rigkeit auf Personen forterbt, bei denen die Ausübung des deutschen Wahlrechts nicht mehr ein Akt demokratischer Selbst­be­stimmung, sondern nur noch ein Akt der Mitbestimmung über Andere wäre. Damit ist zwischen gegenläufigen verfas­sungs­recht­lichen Belangen ein vertretbarer Ausgleich gefunden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online

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