18.10.2024
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Sie sehen eine abgedunkelte Fassade von mehreren Hochhäusern, auf der ein Schutzschild leuchtet.

Dokument-Nr. 764

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Urteil26.07.2005Bundesverfassungsgericht1 BvR 80/95
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Bundesverfassungsgericht Urteil26.07.2005

Bundes­ver­fas­sungs­gericht: Lebens­ver­si­che­rungen müssen Auszah­lungs­regeln ändernKapitalbildende Lebens­ver­si­cherung mit Überschuss­be­tei­ligung: Schutzdefizit für Versi­che­rungs­nehmer bei der Ermittlung des Schluss­über­schusses

Wer eine kapitalbildende Lebens­ver­si­cherung abgeschlossen hat, darf auf eine höhere Überschuss­be­tei­ligung hoffen. Das ergibt sich aus einem Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts (BVerfG), mit dem der Verbrau­cher­schutz gestärkt wird. Die Versicherten müßten "angemessen" an den Überschüssen der Versicherer beteiligt werden. Die Richter verpflichteten den Gesetzgeber, bis 2008 neue Regelungen zu schaffen, um die Interessen der Versicherten zu schützen.

Die gesetzlichen Regelungen für den Bereich der kapital­ge­bundenen Lebens­ver­si­cherung mit Überschuss­be­tei­ligung genügen nicht den verfas­sungs­recht­lichen Schutz­an­for­de­rungen. Es fehlen hinreichende rechtliche Vorkehrungen dafür, dass bei der Berechnung des bei Vertragsende zu zahlenden Schluss­über­schusses die durch die Prämi­en­zah­lungen geschaffenen Vermögenswerte angemessen berücksichtigt werden. Insbesondere gibt es keine Möglichkeit der Klärung, ob der Schluss­über­schuss etwa durch die Nicht­be­rück­sich­tigung stiller Reserven und durch nicht gerechtfertigte Querver­rech­nungen zu gering festgesetzt worden ist. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2007 eine Regelung zu treffen, die den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen gerecht wird. Bis zur Neuregelung bleibt es bei der gegenwärtigen Rechtslage. Dies entschied der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts mit Urteil vom 26. Juli 2005.

Damit war die nach Art eines Musterprozesses mit Unterstützung des Bundes der Versicherten erhobene Verfas­sungs­be­schwerde eines Versi­che­rungs­nehmers, der eine kapitalbildende Lebens­ver­si­cherung mit Überschuss­be­tei­ligung abgeschlossen hatte, jedenfalls im Kern erfolgreich. Der Versi­che­rungs­nehmer hatte – ohne Erfolg – die Zivilgerichte angerufen, um zu erreichen, dass bei der Berechnung seiner Überschuss­be­tei­ligung insbesondere stille Reserven des Versi­che­rungs­un­ter­nehmens berücksichtigt werden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Führen gesetzliche Regelungen dazu, dass Versicherte ihre rechtlich erheblichen Belange nicht selbst und eigenständig effektiv verfolgen können, bewirkt der verfas­sungs­rechtliche Schutz der Privatautonomie durch Art. 2 Abs. 1 GG eine Pflicht des Gesetzgebers, für eine Ausgestaltung des Rechts­ver­hält­nisses der davon betroffenen Vertrags­parteien zu sorgen, die ihren Belangen hinreichend Rechnung trägt. Bezieht sich das Defizit privatautonomer Inter­es­sen­durch­setzung auf eine Position, die objek­ti­v­rechtlich auch vom Schutz der Eigen­tums­ga­rantie erfasst wird, folgt die gesetzliche Schutzpflicht zugleich aus Art. 14 Abs. 1 GG.

2. Ein solches Schutzdefizit betrifft im Rahmen der kapital­bil­denden Lebens­ver­si­cherung die Überschus­ser­mittlung. Die Versi­che­rungs­nehmer übertragen den Versi­che­rungs­un­ter­nehmen durch ihre Prämi­en­zah­lungen Vermögen, das vollständig in das unter­neh­me­rische Eigentum übergeht. Die Versi­che­rungs­un­ter­nehmen sind in der Anlage der Vermögenswerte grundsätzlich frei. Hinsichtlich der Bilanzierung haben sie allerdings die handels­recht­lichen Bewer­tungs­regeln über Vermö­gens­anlagen zu beachten. Diese Regeln erlauben die Schaffung stiller Reserven. Solche Reserven bestehen auf der Aktivseite in der Differenz zwischen dem Buchwert und dem Zeitwert. Nach den Bewer­tungs­regeln bleiben stille Reserven für die Überschuss­be­rechnung vollständig außer Ansatz, soweit sie nicht realisiert werden, etwa durch Veräußerung einer Immobilie. Die Versicherten haben keine Möglichkeit, die Einbeziehung nicht realisierter stiller Reserven in die Überschuss­be­rechnung insoweit zu bewirken, als die Vermögenswerte auf den von ihnen erbrachten Prämi­en­zah­lungen beruhen. Die Berück­sich­tigung der stillen Reserven wird vielmehr pauschal unter Verweis auf das Reali­sa­ti­o­ns­prinzip des handels­recht­lichen Bewer­tungs­rechts verneint. Darüber hinaus können die Überschuss­bildung und damit die Überschuss­be­tei­ligung auch durch Querver­rech­nungen berührt werden, ohne dass die Versicherten darauf Einfluss nehmen können. Gemeint ist insbesondere die Verrechnung der durch die Prämi­en­ka­l­ku­lation nicht gedeckten Kosten mit Überschüssen, die etwa aufgrund günstigerer Risiko- oder Kapital­e­r­gebnisse entstehen.

Der Wettbewerb um das Produkt Lebens­ver­si­cherung funktioniert für die Versicherten nur in beschränkter Weise. Ihnen fehlen praktisch realisierbare Möglichkeiten, selbst und eigenständig auf Änderungen der Praxis zu ihren Gunsten hinzuwirken. Die Vertrags­be­din­gungen der Lebens­ver­si­cherer sind praktisch nicht verhandelbar. Der Versi­che­rungs­nehmer hat keine Chance, einen Versi­che­rungs­vertrag mit Überschuss­be­tei­ligung so abzuschließen, dass die stillen Reserven jedenfalls teilweise auch ohne Realisierung berücksichtigt und Möglichkeiten der Querverrechnung transparent gemacht und inhaltlich begrenzt werden. Nach Vertragsschluss sind die Möglichkeiten, auf das Vertrags­ver­hältnis Einfluss zu nehmen, noch beschränkter. Insbesondere ist die Kündigung des Vertrages keine wirtschaftlich sinnvolle Option, da sie regelmäßig mit erheblichen Nachteilen verbunden ist.

3. Angesichts der fehlenden Möglichkeiten der Versi­che­rungs­nehmer, ihre Belange selbst und eigenständig effektiv zu verfolgen, trifft den Gesetzgeber ein verfas­sungs­recht­licher Schutzauftrag. Er hat hinreichende rechtliche Vorkehrungen dafür vorzusehen, dass bei der Ermittlung eines bei Vertragsende zuzuteilenden Schluss­über­schusses die Vermögenswerte angemessen berücksichtigt werden, die durch die Prämi­en­zah­lungen geschaffen worden sind. Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Er hat weder im Versi­che­rungs­ver­tragsrecht noch im Versi­che­rungs­auf­sichtsrecht für hinreichende Schutz­vor­keh­rungen gesorgt.

Das (zivilrechtliche) Versi­che­rungs­ver­tragsrecht regelt – jedenfalls in der Auslegung durch den Bundes­ge­richtshof – nicht die Feststellung des Überschusses selbst, sondern dessen Verteilung an die Versicherten. Der Bundes­ge­richtshof verweist für die Ermittlung des Überschusses auf die Kontroll­mög­lich­keiten des Versi­che­rungs­auf­sichts­rechts. Der Maßstab des (öffent­lich­recht­lichen) Versi­che­rungs­auf­sichts­rechts ist der der Missstand­s­aufsicht. Die aufsichtliche Tätigkeit orientiert sich nicht am einzelnen Versi­che­rungs­ver­hältnis, sondern an den Belangen der Versicherten in ihrer Gesamtheit und an der Sicherung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Versi­che­rungs­wesens. Der Blick auf die Funkti­o­ns­fä­higkeit legt es nahe, stille Reserven möglichst für zukünftige Zeiten zu halten; den Belangen einzelner aus dem Versi­che­rungs­ver­hältnis ausscheidender Versicherten kann dies aber widersprechen.

Die Rechtslage wird den verfas­sungs­recht­lichen Schutzpflichten nicht gerecht. Während die Zivilgerichte darauf verweisen, dass die Versi­che­rungs­aufsicht Missstände beseitigt, stellen sie insoweit eine eigene Prüfung der hinreichenden Berück­sich­tigung der Belange der Versicherten zurück. Das Versi­che­rungs­auf­sichtsrecht ist andererseits nicht in positiver Weise auf die Wahrung der Belange der Versicherten ausgerichtet. Es gibt für die Versicherten insbesondere keine rechtlichen Möglichkeiten zur Überprüfung, ob eine angemessene Berück­sich­tigung der Vermögenswerte vorliegt, die bei den Versi­che­rungs­un­ter­nehmen mit den gezahlten Versi­che­rungs­prämien gebildet worden sind.

4. Die seit Ablauf des vorliegend maßgeblichen Vertrages erfolgten Neuregelungen haben die aufgezeigten Probleme noch nicht bewältigt. Der Gesetzgeber wird im Rahmen des ihm zukommenden Gestal­tungs­spielraums Lösungen zur Beseitigung des Schutzdefizits bereitzustellen haben. Auf die bisherigen im Versi­che­rungs­auf­sichtsrecht und Versi­che­rungs­ver­tragsrecht vorgesehenen Instrumente ist er nicht beschränkt. In die Prüfung angemessener Lösungen können Möglichkeiten zur Sicherung größerer Transparenz hinsichtlich der Entwicklung von Überschuss­quellen und der Auskehrung von Überschüssen und zur Verbesserung des Infor­ma­ti­o­ns­zugangs ebenso einbezogen werden wie neue verfah­rens­mäßige Wege zum Schutz der betroffenen Belange. Auch kann die Funktionsweise des Wettbewerbs zu Gunsten der Versicherten verbessert werden, etwa durch Erleichterungen beim Wechsel des Versicherers. In Betracht kommen auch versi­che­rungs­spe­zi­fische Arten der Bilanzierung.

Quelle: Bericht der ra-online Redaktion, Pressemitteilung Nr. 67/05 des BVerfG vom 26.07.2005

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