21.11.2024
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Urteil26.07.2005Bundesverfassungsgericht1 BvR 782/94
Urteil26.07.2005Bundesverfassungsgericht1 BvR 957/96
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Bundesverfassungsgericht Urteil26.07.2005

Bundesverfassungsgericht Urteil26.07.2005

Regelungen des Versi­che­rungs­auf­sichts­ge­setzes zur Genehmigung der Übertragung des Bestands von Lebens­ver­si­che­rungs­ver­trägen teilweise verfas­sungs­widrig

Die Regelungen des Versi­che­rungs­auf­sichts­ge­setzes zur aufsichts­be­hörd­lichen Genehmigung der Übertragung des Bestands von Lebens­ver­si­che­rungs­ver­trägen auf ein anderes Unternehmen sind verfas­sungs­widrig, soweit sie nicht sicherstellen, dass eine Genehmigung nur erfolgt, wenn die Belange der Versicherten – bei Versi­che­rungs­vereinen auf Gegenseitigkeit auch die Ansprüche der Vereins­mit­glieder auf Zahlung eines angemessenen Entgelts für den Verlust der Mitgliedschaft – gewahrt sind. Dies entschied der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts mit Urteil vom 26. Juli 2005. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2007 eine Regelung zu treffen, die den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen gerecht wird. Für die in der Vergangenheit abgeschlossenen Bestands­über­tra­gungs­vorgänge bleibt es bei dem bisherigen Rechtszustand.

Aufgrund der Feststellung der teilweisen Verfas­sungs­wid­rigkeit der Regelung waren die von den Beschwer­de­führern nach Art von Musterprozessen mit Unterstützung des Bundes der Versicherten erhobenen Verfas­sungs­be­schwerden in ihrem Kern erfolgreich. Zur Verfolgung der individuellen Interessen der Beschwer­de­führer war es jedoch nicht angezeigt, eine erneute Überprüfung der Rechtmäßigkeit der ihren Verfas­sungs­be­schwerden zugrunde liegenden Genehmigungen der Bestands­über­tra­gungen zu veranlassen.

Sachverhalt: Im Verfahren 1 BvR 782/94 hatte das Versi­che­rungs­un­ter­nehmen, bei dem der Beschwer­de­führer 1 eine Kapita­l­le­bens­ver­si­cherung mit Überschuss­be­tei­ligung unterhält, im Zuge einer Umstruk­tu­rierung des Konzerns alle Lebens­ver­si­che­rungs­verträge auf eine neu gegründete Gesellschaft übertragen. Bei dieser Bestands­über­tragung hatte das ursprüngliche Unternehmen einen Teil des Vermögens (1,12 %) mit einem Buchwert von 90 Millionen DM zurückbehalten. Das zurückbehaltene Vermögen bestand aus Beteiligungen an verbundenen Unternehmen sowie weiteren Unternehmen. Zum Ausgleich wurden vom ursprünglichen Unternehmen gewisse Verpflichtungen weiter getragen. Der Beschwer­de­führer 1 meint, durch das Zurückbehalten von Vermögenswerten sei sein Anspruch auf Überschuss­be­tei­ligung geschmälert worden. Die Bestands­über­tragung hätte daher nicht genehmigt werden dürfen.

Auch das Verfahren 1 BvR 957/96 betrifft eine Bestands­über­tragung, aber mit der Besonderheit, dass die Versicherten Mitglieder eines Versi­che­rungs­vereins auf Gegenseitigkeit waren. Sie blieben zwar Versi­che­rungs­nehmer, verloren aber ihr Mitglied­s­chaftsrecht. Dafür sieht das Versi­che­rungs­auf­sichts­gesetz einen Ersatz durch ein Entgelt vor. Der Beschwer­de­führer 2 meint, dass das festgesetzte Entgelt zu gering war und deshalb die Bestands­über­tragung nicht hätte genehmigt werden dürfen.

Die Beschwer­de­führer sehen ihre Grundrechte, insbesondere das Eigen­tums­grundrecht, aber auch die Privatautonomie verletzt. Das Aufsichtsamt habe bei der Erteilung der Genehmigung ihre Belange nicht ausreichend gewahrt. Das Amt prüfe nämlich nicht positiv, ob ihre vertraglichen Ansprüche voll befriedigt würden, sondern nur negativ, ob ein Missstand vorliege oder die Belange der Versicherten nicht ausreichend gewahrt würden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Verfahren 1 BvR 782/94 Die Regelung zur Übertragung eines Bestands von Lebens­ver­si­che­rungs­ver­trägen auf ein anderes Versi­che­rungs­un­ter­nehmen ist am Maßstab von Art. 2 Abs. 1 GG (Schutz der Privatautonomie) und von Art. 14 Abs. 1 GG (Eigen­tums­ga­rantie) zu überprüfen. Diese Normen führen zu Schutzpflichten des Gesetzgebers gegenüber den Versicherten, denen der Gesetzgeber nicht in hinreichendem Maße nachgekommen ist.

1. Nach der gesetzlichen Regelung bedarf es für die Übertragung des Bestands von Lebens­ver­si­che­rungs­ver­trägen auf ein anderes Unternehmen nicht der Zustimmung des Versi­che­rungs­nehmers. Den Versicherten wird durch die Bestands­über­tragung ein neuer Schuldner aufgedrängt. Sie haben keine Möglichkeit, ihre individuellen Interessen durch Einwirken auf die Bedingungen des Versi­che­rungs­übergangs privatautonom durchzusetzen. Um dieses vom Gesetzgeber selbst geschaffene Defizit auszugleichen, verlangt Art. 2 Abs. 1 GG gesetzliche Schutz­vor­keh­rungen.

Eine Schutzpflicht des Gesetzgebers ergibt sich zudem aus der Eigen­tums­ga­rantie. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, insbesondere vorzusorgen, dass die durch die Prämi­en­zah­lungen bei dem Unternehmen geschaffenen Vermögenswerte, die der Erfüllung der Ansprüche der Versicherten dienen, diesen erhalten bleiben.

2. Die verfas­sungs­recht­lichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG fordern Sicherungen dafür, dass die durch Prämi­en­zah­lungen der Versi­che­rungs­nehmer beim Versicherer geschaffenen Vermögenswerte im Fall von Bestands­über­tra­gungen als Quellen für die Erwirtschaftung von Überschüssen erhalten bleiben und den Versicherten in gleichem Umfang zugute kommen wie ohne Austausch des Schuldners. Der Gesetzgeber hat im Versi­che­rungs­auf­sichtsrecht zwar Schutz­vor­keh­rungen vorgesehen, aber nicht in hinreichendem Maße.

Der Gesetzgeber hat die Übertragung des Bestands von Lebens­ver­si­che­rungs­ver­trägen auf ein anderes Unternehmen dem Vorbehalt einer aufsichts­be­hörd­lichen Genehmigung unterworfen und auf diese Weise eine besondere Verantwortung für die Wahrung der Belange der Versicherten übernommen. Im Fall der Bestands­über­tragung ist sicherzustellen, dass die Versicherten nicht schlechter gestellt werden als vorher. Der bei der Genehmigung der Bestands­über­tragung anzuwendende gesetzliche Maßstab sichert den verfas­sungs­rechtlich geforderten Schutz speziell der Belange der Versicherten aber nicht hinreichend.

Nach § 8 VAG ist die Erlaubnis zum Betrieb eines Versi­che­rungs­un­ter­nehmens zu versagen, wenn die „Belange der Versicherten nicht ausreichend gewahrt“ sind. Dieser Maßstab fordert nicht die positive Feststellung einer angemessenen Berück­sich­tigung der Interessen der Versicherten im Gesamtgefüge aller betroffenen Belange. Da die Versi­cher­ten­belange zu diesem Zeitpunkt noch nicht in konkreten Verträgen individuell ausgestaltet sind, ist insoweit die negative Umschreibung des Prüfungs­maßstabs nicht zu beanstanden. Dieser Maßstab wird durch § 14 VAG aber auch auf die Genehmigung der Bestands­über­tragung angewandt. Bei ihr liegen bereits rechtlich geschützte Positionen, darunter auch eigen­tums­rechtlich erhebliche, vor. Sie bestimmen die Belange, die aus Anlass der Bestands­über­tragung zu Gunsten der Versicherten zu wahren sind. Da die Bestands­über­tragung nicht der Zustimmung der Versi­che­rungs­nehmer bedarf, können sich diese um den Schutz ihrer individuellen Interessen nicht selbst kümmern. Die verfas­sungs­rechtliche Schutzpflicht fordert einen Ausgleich in der Weise, dass die Belange der Versicherten von der Aufsichts­behörde umfassend festzustellen und ungeschmälert in die Entscheidung über die Genehmigung und die dabei vorzunehmende Abwägung einzubringen sind.

3. Der festgestellte Mangel lässt sich nicht durch eine den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen genügende Auslegung der Normen des Versi­che­rungs­auf­sichts­ge­setzes beheben. Der Prüfungsmaßstab gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Erfüllung der Schutzaufgabe. Eine den Besonderheiten der Bestands­über­tragung gerecht werdende Auslegung müsste im Übrigen dazu führen, dass der im Wortlaut identische Maßstab in dieser Geneh­mi­gungs­si­tuation einen anderen Inhalt als bei der Erlaubnis der Geschäfts­aufnahme hätte. Auch dies widerspräche rechts­s­taat­lichen Bestimmt­heits­an­for­de­rungen.

II. Verfahren 1 BvR 957/96 Der Gesetzgeber hat zu gewährleisten, dass den bei einer Bestands­über­tragung aus einem Versi­che­rungs­verein auf Gegenseitigkeit ausscheidenden Mitgliedern ein angemessener Ausgleich für den Verlust der Mitgliedschaft gewährt wird. Das Gesetz hat zwar einen Anspruch auf ein Entgelt vorgesehen. Die Regelungen des Versi­che­rungs­auf­sichts­ge­setzes sichern jedoch nicht, dass dieses einen vollen Ausgleich für den erlittenen Verlust bietet.

1. Die Mitgliedschaft in einem Versi­che­rungs­verein auf Gegenseitigkeit, die neben der Rechtsstellung aus dem Versi­che­rungs­ver­hältnis eigenständige Bedeutung hat, steht unter dem Schutz der Eigen­tums­ga­rantie. Die gesetzlich vorgesehene Zahlung eines Entgelts für den Verlust der Mitgliedschaft bedeutet die Anerkennung eines eigen­tums­rechtlich erheblichen Gehalts der Mitgliedschaft.

2. Mit der – von der Zustimmung der Mitglieder nicht abhängigen – Genehmigung der Bestands­über­tragung geht das Versi­che­rungs­ver­hältnis vollständig auf den neuen Rechtsträger über mit der Folge, dass die Vereins­mit­glied­schaft erlischt. Dies steht nicht mit dem Schutz aus Art. 14 Abs. 1 GG in Widerspruch, sofern für eine hinreichende Wahrung der Belange der Versicherten gesorgt ist. Die Regelungen des Versi­che­rungs­auf­sichts­ge­setzes verfehlen aber das Ziel eines angemessenen Inter­es­se­n­aus­gleichs insoweit, als im Zuge der Genehmigung der Bestands­über­tragung nicht gesichert ist, dass den ausscheidenden Mitgliedern ein angemessenes Entgelt gezahlt wird.

Der Gesetzgeber bestimmt, dass das Entgelt „angemessen“ sein muss, gibt aber keine Anhaltspunkte für die Ermittlung der Entgelthöhe. Insbesondere ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, ob bei der Wertbestimmung die stillen Reserven der übertragenen Vermögenswerte rechnerisch teilweise zu berücksichtigen sind. Soweit über die Entgelthöhe im Zuge der Genehmigung der Aufsichts­behörde zu befinden ist, kommt die allgemeine Bestimmung des Versi­che­rungs­auf­sichts­ge­setzes (§ 14 i.V.m. § 8 VAG) zur Anwendung, die eine Genehmigung nur ausschließt, wenn die Belange der Versicherten „nicht ausreichend gewahrt“ sind. Diese Bestimmung sichert die Gewährung eines angemessenen Entgelts allerdings nicht, wenn – wie es der Auffassung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts entspricht – bei der öffent­lich­recht­lichen Genehmigung und ihrer gerichtlichen Überprüfung nur geklärt wird, ob das Entgelt unangemessen niedrig ist, nicht dagegen, ob es angemessen hoch ist. Bei dieser Auslegung wirken sich die verfas­sungs­recht­lichen Defizite des aufsichts­recht­lichen Maßstabs auch zu Lasten der Wahrung der Belange der Mitglieder im Hinblick auf die Bestimmung eines angemessenen Entgelts aus. Die betroffene Eigen­tums­po­sition wird nicht ihrem Gewicht entsprechend in die Abwägung einbezogen.

Das verfas­sungs­rechtliche Defizit wird nicht dadurch ausgeglichen, dass neben dem öffent­lich­recht­lichen Geneh­mi­gungs­ver­fahren für den betroffenen Versi­che­rungs­nehmer die Möglichkeit besteht, das angemessene Entgelt im zivil­recht­lichen Verfahren vor dem Landgericht bestimmen zu lassen. Bereits im Geneh­mi­gungs­ver­fahren, in dem die angemessene Zuordnung der verschiedenen betroffenen Belange zu überprüfen ist, muss gesichert werden, dass die Belange der Vereins­mit­glieder gewahrt werden. Die Unzuläng­lichkeit des Prüfungs­maßstabs für das Geneh­mi­gungs­ver­fahren wird durch die Verweisung auf das landge­richtliche Verfahren nicht in einer Weise ausgeglichen, die den Schutz­be­dürf­nissen der Vereins­mit­glieder gerecht wird.

3. Das verfas­sungs­rechtliche Defizit lässt sich durch eine an Art. 14 Abs. 1 GG orientierte Auslegung der Normen nicht hinreichend beheben. Denn nach wie vor wäre gesetzlich nicht abgesichert, dass die Angemessenheit des Entgelts positiv festzustellen ist; auch bliebe im Gesetz offen, auf welcher Grundlage die Angemessenheit zu beurteilen ist.

III. Der Gesetzgeber wird im Rahmen des ihm zukommenden Gestal­tungs­spielraums Lösungen zur Beseitigung des Schutzdefizits bereit zu stellen haben. Er wird insbesondere zu klären haben, ob der Ausgleich der Rechte der Versicherten und der Vereins­mit­glieder mit rechtlich erheblichen Interessen anderer Betroffener im vorhandenen normativen Rahmen oder im Zuge weiterer struktureller Veränderungen des Versi­che­rungs­rechts und des mit ihm verknüpften Gesell­schafts­rechts sowie des Bilanzrechts erfolgen soll. Zu dieser Klärung gehört die Prüfung von Vorkehrungen zur Sicherung größerer Transparenz und neuer verfah­rens­mäßiger Wege zum Schutz der betroffenen Belange.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 66/05 des BVerfG vom 26.07.2005

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