21.11.2024
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Dokument-Nr. 621

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Beschluss05.04.2005Bundesverfassungsgericht1 BvR 774/02
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Bundesverfassungsgericht Beschluss05.04.2005

Beitrags­ver­pflichtung zur berufs­s­tän­dischen Anwalts­ver­sorgung während einkommensloser Kinder­er­zie­hungs­zeiten verfas­sungs­widrig

Die Beitrags­re­gelung der Satzung des Versor­gungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg, die zur Beitrags­leistung auch bei Einkom­mens­lo­sigkeit während der Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren verpflichtet, verstößt gegen das Gleich­be­rech­ti­gungsgebot (Art. 3 Abs. 2 GG). Sie führt zu einer unzulässigen faktischen Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern. Die Regelung kann jedoch bis zum In-Kraft-Treten einer verfas­sungs­gemäßen Neuregelung, längstens bis zum 30. Juni 2006, weiter angewendet werden. Der notwendigen Neuregelung ist rückwirkende Geltung zugunsten solcher Mitglieder beizulegen, die – wie die Beschwer­de­führerin – ihre Beitrags­ver­pflichtung angefochten haben. Dies entschied der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts. Damit hatte die Verfas­sungs­be­schwerde einer Rechtsanwältin aus Baden-Württemberg weitgehend Erfolg. Diese hatte im verwal­tungs­ge­richt­lichen Verfahren erfolglos die beitragsfreie Mitgliedschaft im Versorgungswerk für die Zeit ihres dreijährigen Kinder­er­zie­hungs­urlaubs beantragt.

Rechtlicher Hintergrund:

Das Rechts­an­walts­ver­sor­gungs­gesetz Baden-Württemberg bestimmt die Errichtung eines berufs­s­tän­dischen Versor­gungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg. Die Leistungen des Versor­gungswerks bestehen insbesondere in der Gewährung von Alters- und Berufs­un­fä­hig­keits­renten. Für Mitglieder einer Rechts­an­walts­kammer in Baden-Württemberg besteht eine Pflicht­mit­glied­schaft im Versorgungswerk. Der monatliche Pflichtbeitrag richtet sich nach der Satzung des Versor­gungswerks. Danach führt das Fehlen von Einkommen lediglich zu einer verminderten Beitragshöhe. Eine Regelung, die eine Freistellung von der Beitrags­ver­pflichtung für den Fall ermöglicht, dass ein Mitglied wegen der von ihm übernommenen Kindererziehung über kein Einkommen verfügt, enthält die Satzung nicht.

Der Entscheidung des BVerfG liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die Beitrags­re­gelung in der Satzung des Versor­gungswerks hat eine faktische Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern zur Folge. Das ist mit dem Gleich­be­rech­ti­gungsgebot nicht zu vereinbaren; denn die Gleich­be­rech­tigung wird auch durch Regelungen gehindert, die zwar geschlechts­neutral formuliert sind, im Ergebnis aber aufgrund natürlicher Unterschiede oder der gesell­schaft­lichen Bedingungen überwiegend Frauen betreffen.

Das Fehlen von Einkommen während der Kinder­er­zie­hungs­zeiten führt lediglich dazu, dass nur der Mindestbeitrag zu leisten ist. Aber auch eine nur in Höhe des Mindest­bei­trages fortbestehende Verpflichtung bedeutet für eine junge Familie und erst recht für Allein­er­ziehende im Regelfall eine erhebliche finanzielle Belastung. Die Alternative, durch Verzicht auf eine Zulassung zur Rechts­an­walt­schaft aus dem Versorgungswerk auszuscheiden und sich hierdurch der Beitrags­ver­pflichtung zu entziehen, ist ebenfalls mit erheblichen Nachteilen verbunden. Denn wird der Kinder­er­ziehende berufsunfähig, hat er keinen Anspruch auf Berufs­un­fä­hig­keitsrente, da er nicht mehr Mitglied des Versor­gungswerks ist. Darüber hinaus kann sich die Aufgabe des Anwaltsstatus auch auf die berufliche Entwicklung der Kinder­er­zie­henden nachteilig auswirken. Die dargestellten Nachteile treffen in der sozialen Wirklichkeit vor allem Frauen, da im Allgemeinen noch immer Frauen die Kindererziehung übernehmen.

Die durch die Satzung bewirkte faktische Benachteiligung von Frauen ist nicht zulässig. Die mittelbare Benachteiligung von Rechts­an­wäl­tinnen ist nicht dadurch gerechtfertigt, dass das Versorgungswerk – anders als die gesetzliche Renten­ver­si­cherung – keine Bundeszuschüsse zur Finanzierung von Kinder­er­zie­hungs­zeiten erhält. Dass berufs­s­tän­dische Versor­gungswerke wegen der Zahlungs­ausfälle durch die Beitrags­frei­stellung nicht auf Bundeszuschüsse angewiesen sind, wird bereits durch die finanzielle Stabilität der zahlreichen Versor­gungswerke belegt, die eine beitragsfreie Mitgliedschaft ermöglichen (z.B. Bayern, Saarland, Berlin, Hamburg). Die Benachteiligung wird auch nicht durch höhere Leistungen des Versor­gungswerks ausgeglichen. Es ist zwar grundsätzlich möglich, Nachteile, die sich durch die Ausgestaltung von Beitragssätzen ergeben, durch Vorteile bei der Leistungs­ge­währung zu kompensieren. Dies ist vorliegend jedoch nicht geschehen. Schließlich ist die Benachteiligung von Frauen im Versorgungswerk auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil ihnen mit der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung ein Versor­gungs­system zur Verfügung steht, das Kinder­er­zie­hungs­zeiten als Beitragszeiten anerkennt. Eröffnet die Rechtsordnung unter der Voraussetzung gleichwertigen Schutzes die Wahl zwischen verschiedenen Zweigen des Alters­si­che­rungs­systems, so kann eine Benachteiligung in einem Bereich nicht durch benach­tei­li­gungsfreie Regelungen in einem anderen Bereich gerechtfertigt sein.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 52/05 des BVerfG vom 22.06.2005

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