14.11.2024
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Dokument-Nr. 7979

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Bundesverfassungsgericht Urteil10.06.2009

BVerfG: Verfas­sungs­be­schwerden in Sachen Private Kranken­ver­si­cherung erfolglosVorschriften verletzen Grundrechte – insbesondere Berufs- und Verei­ni­gungs­freiheit – der Krankenkassen nicht

Die Verfas­sungs­be­schwerden, die sich gegen Vorschriften des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung vom 26. März 2007 (GKV-Wettbe­wer­bs­s­tär­kungs­gesetz) und gegen Normen des Gesetzes zur Reform des Vertrags­ver­si­che­rungs­rechts vom 23. November 2007 richteten blieben erfolglos. Die Vorschriften über den Basistarif in der privaten Kranken­ver­si­cherung beschränken zwar die Berufsausübung der privaten Kranken­ver­si­che­rungs­un­ter­nehmen, sind aber nicht als so schwerwiegend anzusehen, dass sie die Funkti­o­ns­fä­higkeit der privaten Kranken­ver­si­cherung in Zukunft ausschließen. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Das GKV-Wettbe­wer­bs­s­tär­kungs­gesetz hält das zweigliedrige Kranken­ver­si­che­rungs­system von gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufrecht, hat aber zum 1. Januar 2009 erhebliche Neuerungen eingeführt. Es begründet eine Versi­che­rungs­pflicht für alle Einwohner Deutschlands in der gesetzlichen oder der privaten Kranken­ver­si­cherung. Neben verschiedenen Neuregelungen, welche den Wettbewerb durch eine größere Vertrags­freiheit der Krankenkassen stärken sollen, zielt das Gesetz auf eine Verbesserung der Wahlrechte und Wechsel­mög­lich­keiten in der privaten Kranken­ver­si­cherung durch Einführung einer teilweisen Übertragbarkeit von Alterungs­rück­stel­lungen sowie die Einführung eines Basistarifs. Gesetzliche und private Kranken­ver­si­cherung sollen als jeweils eigene Säule für die ihnen zugewiesenen Personenkreise einen dauerhaften und ausreichenden Versi­che­rungs­schutz gegen das Risiko der Krankheit auch in sozialen Bedarfs­si­tua­tionen sicherstellen.

Vorschriften verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden

Die dagegen gerichteten Verfas­sungs­be­schwerden von fünf Kranken­ver­si­che­rungs­un­ter­nehmen und drei privat kranken­ver­si­cherten Beschwer­de­führern hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht zurückgewiesen. Die überprüften Vorschriften verletzen die Beschwer­de­führer nicht in Grundrechten, insbesondere nicht in ihrer Berufs- und Verei­ni­gungs­freiheit. Die dem Gesetz zugrunde liegenden Prognosen sind verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden; den Gesetzgeber trifft jedoch eine Beobach­tungs­pflicht.

Sinnvolle Ausübung der privaten Kranken­ver­si­cherung wird durch Basistarif weder unmöglich noch nachhaltig erschwert

Maßgebend waren dafür folgende Erwägungen:

Die Vorschriften über den Basistarif in der privaten Kranken­ver­si­cherung beschränken zwar die Berufsausübung der privaten Kranken­ver­si­che­rungs­un­ter­nehmen. Sie sind aber im Hinblick auf die von ihnen verfolgten Ziele gerechtfertigt und derzeit nach der nicht zu beanstandenden Prognose des Gesetzgebers nicht als so schwerwiegend anzusehen, dass sie die Funkti­o­ns­fä­higkeit der privaten Kranken­ver­si­cherung in Zukunft ausschließen. Zwar müssen die Unternehmen neben ihren Normaltarifen nunmehr zusätzlich einen Basistarif anbieten und dort auf Antrag Versi­che­rungs­schutz gewähren. Die sinnvolle Ausübung des Berufs eines privaten Kranken­ver­si­cherers wird dadurch aber weder unmöglich noch nachhaltig erschwert. Soweit Personen den Basistarif wählen, könnten die Unternehmen zwar gezwungen sein, diese im Einzelfall zu nicht risikogerechten Prämien zu versichern, weil die Prämie im Basistarif in der Höhe begrenzt ist und Risikozuschläge und Leistungs­aus­schlüsse nicht zulässig sind. Die möglicherweise eintretende Unterdeckung tragen jedoch nicht die Versi­che­rungs­un­ter­nehmen, sondern die Versicherten der privaten Kranken­ver­si­cherung im Wege einer Umlage.

Verstärkter Wechsel von Versicherten in den angebotenen Basistarif ist nicht zu erwarten

Dabei konnte der Gesetzgeber im Rahmen seines Progno­se­spielraums vertretbar davon ausgehen, dass der Basistarif auf absehbare Zeit keine bedeutsamen Auswirkungen auf das Geschäft der privaten Kranken­ver­si­che­rungen haben wird. Jedenfalls derzeit kann ausgeschlossen werden, dass viele Versicherte in den Basistarif wechseln werden. Denn für diesen Tarif muss eine hohe Prämie von rund 570 Euro monatlich gezahlt werden. Gleichzeitig bietet der Basistarif aber in seinen zentralen Leistungen nicht den üblichen Leistungsumfang der Normaltarife der privaten Kranken­ver­si­cherung. Entgegen den Befürchtungen der Unternehmen konnte der Gesetzgeber deshalb davon ausgehen, dass es zur Finanzierung des Basistarifs mit seinen eventuell nicht kostendeckenden Prämien in den Normaltarifen der privaten Kranken­ver­si­cherung nicht zu überpro­por­ti­onalen Prämi­en­stei­ge­rungen kommen werde und dass dies in Zukunft zu keinem erheblichen Wechsel in den Basistarif führen werde, der auf Dauer das gesamte Geschäftsmodell der privaten Kranken­ver­si­cherung zerstören würde. Sollte sich diese vertretbare Prognose in Zukunft als Irrtum darstellen, wäre der Gesetzgeber gegebenenfalls zur Korrektur verpflichtet.

Kontra­hie­rungszwang ermöglicht auch Personen mit gravierenden Vorerkrankungen den Wechsel zu privater Kranken­ver­si­cherung

Für das im GKV-Wettbe­wer­bs­s­tär­kungs­gesetz formulierte Ziel, allen Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland einen bezahlbaren Kranken­ver­si­che­rungs­schutz in der gesetzlichen oder in der privaten Kranken­ver­si­cherung zu sichern, kann sich der Gesetzgeber auf das Sozial­staats­prinzip des Grundgesetzes berufen. Die Verbindung von Versi­che­rungs­pflicht und Kontra­hie­rungszwang im Basistarif ist zur Erreichung des gesetz­ge­be­rischen Ziels geeignet, dem der privaten Kranken­ver­si­cherung zugewiesenen Personenkreis einen ausreichenden und bezahlbaren Kranken­ver­si­che­rungs­schutz zu gewährleisten. Ohne den Kontra­hie­rungszwang hätten insbesondere Personen mit gravierenden Vorerkrankungen keine Möglichkeit, in eine private Kranken­ver­si­cherung aufgenommen zu werden, weil diese sie wegen des erhöhten Risikos nicht aufnehmen würde. Auch mit den weiteren Vorschriften zum Basistarif hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestal­tungs­spielraum nicht überschritten; insbesondere war er nicht verpflichtet, den Basistarif auf eine minimale Grundsicherung zu beschränken.

Das durch das GKV-Wettbe­wer­bs­s­tär­kungs­gesetz eingeführte absolute Kündi­gungs­verbot für Kranken­kos­ten­voll­ver­si­che­rungen ist ein gerecht­fer­tigter Eingriff, damit die Mitglieder der privaten Kranken­ver­si­cherung in gleicher Weise wie im Rahmen der öffent­lich­recht­lichen Versicherung umfassend, rechtssicher und dauerhaft abgesichert sind. Gleiches gilt für die Pflicht der Unternehmen, ihren Versicherten selbst im Fall des Zahlungsverzugs eine Notversorgung erbringen zu müssen.

Portabilität der Alterungs­rück­stel­lungen soll funkti­o­nie­renden Wettbewerb herstellen

Die Einführung einer teilweisen Portabilität der Alterungs­rück­stel­lungen für Neukunden der privaten Kranken­ver­si­cherung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Die bisher von den Unternehmen ausnahmslos gewählte Vertrags­ge­staltung, wonach bei einer Kündigung des Versi­che­rungs­vertrags kein Anspruch auf Übertragung der für den Versi­che­rungs­nehmer gebildeten Alterungs­rück­stellung bestand, ist damit für die Zukunft ausgeschlossen. Dieser Eingriff in die Berufs­aus­übungs­freiheit der Kranken­ver­si­che­rungs­un­ter­nehmen ist durch legitime Gemein­wohl­in­teressen gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolgt mit der Portabilität der Alterungs­rück­stel­lungen das Ziel, im Markt der privaten Kranken­ver­si­che­rungen einen funkti­o­nie­renden Wettbewerb herzustellen und den Versicherten einen Wechsel zu einem anderen Versi­che­rungs­un­ter­nehmen zu erleichtern. Die beschwer­de­füh­renden Unternehmen haben im Verfahren selbst eingeräumt, dass es für Bestandskunden der privaten Kranken­ver­si­cherung ab einem gewissen Alter bisher praktisch unmöglich war, ihre Kranken­ver­si­cherung zu wechseln, weil der damit verbundene Verlust der Alterungs­rück­stel­lungen dazu führte, dass ein neuer Versicherer seine Kalkulationen ohne diese Rücklage vornehmen musste und deshalb erhöhte Prämien verlangte.

Die Einführung einer teilweisen Portabilität der Alterungs­rück­stellung stellt keinen wegen der Gefahr einer Risikoselektion im Bestand der Unternehmen unzumutbaren Eingriff dar. Zwar setzt die dauerhafte Erfüllbarkeit der Kranken­ver­si­che­rungs­verträge durch die Unternehmen jedenfalls im Grundsatz voraus, dass sich unter ihren Versi­che­rungs­nehmern in ausreichendem Maße solche mit guten Risiken befinden. Ein stetiges Abwandern von Versicherten mit guten Risiken mit der Folge, dass in einem Unternehmen nur noch Menschen mit schlechten Risiken und hohen Krank­heits­kosten versichert sind, könnte letztlich bis hin zur Insolvenz des Unternehmens führen. In der Reform­dis­kussion der Vergangenheit wurden deshalb Modelle abgelehnt, die eine Übertragbarkeit der vollen kalkulierten Alterungs­rück­stellung vorsahen, weil sie die Gefahr einer unvertretbaren Risikoselektion und Entmischung in sich tragen würden. Das GKV-Wettbe­wer­bs­s­tär­kungs­gesetz sieht jedoch nicht die Übertragung der vollen kalkulierten Alterungs­rück­stellung, sondern lediglich deren Übertragung im Umfang der dem Basistarif entsprechenden Leistungen vor. Bei einem Versi­che­r­er­wechsel wird daher auch unter der Geltung des neuen Rechts ein erheblicher Anteil der für den Versi­che­rungs­nehmer in seinem Normaltarif gebildeten Alterungs­rück­stellung bei dem bisherigen Unternehmen verbleiben. Die Neuregelung erhöht zwar das Risiko einer Abwanderung von Versicherten, bietet aber auch gesteigerte Chancen, durch Wechsel Kunden hinzuzugewinnen. Der Wettbewerb zwischen den Versi­che­rungs­un­ter­nehmen wird damit auf verträgliche Weise gefördert.

Mitnahme eines Teils der Alters­rück­stellung lediglich für Basistarif gültig und damit für die meisten Versicherten uninteressant

Auch die zeitlich auf das erste Halbjahr 2009 begrenzte Einführung einer teilweisen Portabilität bei Verträgen, die vor dem 1. Januar 2009 abgeschlossen worden sind, ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Es handelt sich um eine die Unternehmen lediglich gering belastende Regelung, denn die Mitnahme eines Teils der Alterungs­rück­stellung wird lediglich in dem Basistarif ermöglicht, der jedoch für den durch­schnitt­lichen Versicherten der privaten Kranken­ver­si­cherung wegen seines schlechteren Leistungs­niveaus bei gleichzeitig hoher Prämie ökonomisch in der Regel nicht interessant ist. Die von den beschwer­de­füh­renden Unternehmen als Anreiz zum Wechsel beanstandete Möglichkeit, aus dem Basistarif sofort in den Normaltarif des aufnehmenden Unternehmens zu wechseln, ist durch eine Ende 2008 erfolgte Rechtsänderung faktisch beseitigt worden.

Wechsel zu privater Krankenkasse erst möglich, wenn drei aufein­an­der­folgende Jahre das Arbeitsentgelt über der Jahres­a­r­beits­ent­geld­grenze lag

Die von einem bisher privat kranken­ver­si­cherten Beschwer­de­führer, aber auch von verschiedenen Kranken­ver­si­che­rungs­un­ter­nehmen angegriffene Vorschrift des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in der Fassung durch das GKV-Wettbe­wer­bs­s­tär­kungs­gesetz ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Genügte es bei Arbeitern und Angestellten für die Befreiung von der Versi­che­rungs­pflicht bisher, dass ihr regelmäßiges Arbeitsentgelt in einem Jahr über einem bestimmten Betrag lag (Jahres­a­r­beits­ent­gelt­grenze), so muss es nun in drei aufeinander folgenden Kalenderjahren darüber liegen, bevor Versi­che­rungs­freiheit eintritt. Die Regelung ist den betroffenen Versicherten zumutbar. Der Gesetzgeber hat lediglich den Zeitraum verlängert, in dem Versicherte in der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung verbleiben müssen, bevor sie sich für einen Wechsel in die private Kranken­ver­si­cherung entscheiden können. Damit sollen insbesondere Beschäftigte, welche zuvor unter Umständen jahrzehntelang als beitragsfrei Famili­en­ver­si­cherte, als Auszubildende oder Berufsanfänger mit geringem Arbeitsentgelt von den Leistungen der Solida­r­ge­mein­schaft profitiert haben, bei ihrem erstmaligen Überschreiten der Jahres­a­r­beits­ent­gelt­grenze für einen gewissen Zeitraum weiterhin an die Solida­r­ge­mein­schaft gebunden werden. Aber auch für Personen wie akademische Berufsanfänger, die nach bisherigem Recht schon mit der erstmaligen Aufnahme einer versi­che­rungs­pflichtigen Beschäftigung aufgrund der Höhe ihres Verdienstes versi­che­rungsfrei waren, ist die Versi­che­rungs­pflicht für mindestens drei Jahre zumutbar. Der Gesetzgeber kann den Nachweis des Überschreitens der Jahres­a­r­beits­ent­gelt­grenze davon abhängig machen, dass diese Überschreitung von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stetigkeit ist.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 59/09 des BVerfG vom 10.06.2009

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