21.11.2024
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Dokument-Nr. 284

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Beschluss09.11.2004Bundesverfassungsgericht1 BvR 684/98
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Bundesverfassungsgericht Beschluss09.11.2004

Ausschluss der Eltern nichtehelicher Kinder von einer Hinter­blie­be­nen­ver­sorgung nach dem Opferent­schä­di­gungsrecht verfas­sungs­widrig

Es ist mit Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitssatz) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz der Familie) unvereinbar, dass das Opferent­schä­di­gungs­gesetz (OEG) keine Versor­gungs­leistung für den Partner einer nichtehelichen Lebens­ge­mein­schaft vorsieht, der nach dem gewaltsamen Tod des anderen Lebenspartners unter Verzicht auf eine Erwer­b­s­tä­tigkeit die Betreuung der gemeinsamen Kinder übernimmt.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, insoweit bis zum 31. März 2006 eine verfas­sungs­gemäße Neuregelung zu treffen. Dies entschied der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts auf die Verfas­sungs­be­schwerde (Vb) eines nichtehelichen Vaters. Das angegriffene Urteil des Bayerischen Landes­so­zi­al­ge­richts wurde aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:

Wer Opfer einer Gewalttat geworden ist und dadurch einen körperlichen, geistigen oder seelischen Schaden erlitten hat, kann nach dem OEG (in Verbindung mit dem Bundes­ver­sor­gungs­gesetz) Versorgung erhalten. Dies gilt auch für die Hinterbliebenen eines Geschädigten, der an den Folgen der Gewalttat gestorben ist. Die Hinter­blie­be­nen­ver­sorgung steht aber nur der Witwe, dem Witwer, den Waisen und den Verwandten der aufsteigenden Linie (z.B. Eltern) zu. Der Partner einer nichtehelichen Lebens­ge­mein­schaft erhält dagegen keine Hinter­blie­be­nen­ver­sorgung. Das OEG sieht für ihn auch dann keine Leistungen vor, wenn er nach dem gewaltsamen Tod des anderen Lebenspartners unter Verzicht auf eine Erwer­b­s­tä­tigkeit die Betreuung der gemeinsamen Kinder übernimmt.

Der Beschwer­de­führer (Bf) lebte in einer nichtehelichen Lebens­ge­mein­schaft. Der Beziehung entstammen Zwillinge. Der Bf war erwerbstätig und erwirtschaftete den Unterhalt der Familie. Seine Partnerin betreute die Kinder. Eine Eheschließung war geplant. Sechs Monate nach der Geburt der Kinder wurde die Partnerin des Bf ermordet. Der Bf, der drei Jahre unbezahlten Urlaub genommen hat, um seine Kinder zu betreuen, beantragte für sich die Gewährung einer Hinter­blie­be­nenrente. Der Antrag blieb im Verwaltungs- und Gerichts­ver­fahren ohne Erfolg. Seine Vb war erfolgreich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Vb ist zulässig. Zwar hat der Bf in den Ausgangs­ver­fahren keine verfas­sungs­recht­lichen Erwägungen angestellt. Unzulässig wird dadurch seine Vb nicht. Der Verfas­sungs­be­schwer­de­führer kann sich im fachge­richt­lichen Ausgangs­ver­fahren regelmäßig damit begnügen, auf eine ihm günstige Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts hinzuwirken, ohne dass ihm daraus prozessuale Nachteile im Verfahren der Verfas­sungs­be­schwerde erwachsen. Es ist durch das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) nicht gefordert, dass er bereits das fachge­richtliche Verfahren auch als "Verfas­sungs­prozess" führt.

2. Die Vb ist begründet. Die angegriffenen Vorschriften differenzieren zwischen verheirateten und unverheirateten Elternteilen, die nach dem gewaltsamen Tod des anderen Elternteils gemeinsame Kinder betreuen. Bei verheirateten Eltern wird der nach bürgerlichem Recht bestehende Anspruch eines Ehegatten auf Unterhalt wegen Kinderbetreuung durch eine Hinter­blie­be­nenrente nach dem OEG abgesichert; der Anspruch eines nicht­ver­hei­rateten Partners auf Kinder­be­treu­ungs­un­terhalt (§ 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB) wird dagegen nicht abgesichert. Diese Unterscheidung lässt sich verfas­sungs­rechtlich nicht hinreichend rechtfertigen.

Zwar bestehen erhebliche rechtliche Unterschiede zwischen dem Anspruch eines nichtehelichen Partners und dem Anspruch eines Ehegatten auf Unterhalt wegen Kinderbetreuung. Insbesondere ist der Anspruch des nichtehelichen Elternteils grundsätzlich auf drei Jahre befristet, während der eheliche und nacheheliche Betreu­ungs­un­terhalt in der Regel bis zum achten Lebensjahr des Kindes voll zu leisten ist. Diese Unterschiede rechtfertigen aber nicht den vollständigen Ausschluss des hinterbliebenen Elternteils eines nichtehelichen Kindes von jeglicher Hinter­blie­be­nen­ver­sorgung nach dem OEG. In den ersten drei Lebensjahren eines Kindes ist ein solcher Elternteil ebenso wie der eines ehelichen Kindes auf Unter­halts­leis­tungen angewiesen, wenn er in dieser Zeit das Kind persönlich betreut. Zumindest in diesem Zeitraum ist der Anspruch auf Betreu­ungs­un­terhalt für den nichtehelichen Partner genau so wichtig wie für einen getrennt­le­benden oder geschiedenen Ehegatten. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass inzwischen mehr als 20 % aller Kinder bei ihren nicht verheirateten Eltern aufwachsen. Es ist davon auszugehen, dass der Anspruch auf Betreu­ungs­un­terhalt auch faktisch in vielen Fällen erfüllt wird und zwar häufig wie in Ehen in Form eines „Famili­en­un­terhalts“ in natura und auch über das dritte Lebensjahr des Kindes hinaus. In diesem Fall bildet er einen wichtigen Baustein bei der Absicherung desjenigen Elternteils eines nichtehelichen Kindes, der das Kind in den ersten drei Lebensjahren betreut. Es fehlt daher an hinreichend wichtigen Gründen, wenn der Gesetzgeber bei nicht miteinander verheirateten Eltern - im Gegensatz zu verheirateten Eltern - von einer Absicherung des Anspruchs auf Betreu­ungs­un­terhalt durch eine Hinter­blie­be­nenrente nach dem OEG absieht.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 26/2005 des BVerfG vom 11. März 2005

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