Dokument-Nr. 284
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Bundesverfassungsgericht Beschluss09.11.2004
Ausschluss der Eltern nichtehelicher Kinder von einer Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferentschädigungsrecht verfassungswidrig
Es ist mit Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitssatz) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz der Familie) unvereinbar, dass das Opferentschädigungsgesetz (OEG) keine Versorgungsleistung für den Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vorsieht, der nach dem gewaltsamen Tod des anderen Lebenspartners unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung der gemeinsamen Kinder übernimmt.
Der Gesetzgeber ist verpflichtet, insoweit bis zum 31. März 2006 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines nichtehelichen Vaters. Das angegriffene Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts wurde aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:
Wer Opfer einer Gewalttat geworden ist und dadurch einen körperlichen, geistigen oder seelischen Schaden erlitten hat, kann nach dem OEG (in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz) Versorgung erhalten. Dies gilt auch für die Hinterbliebenen eines Geschädigten, der an den Folgen der Gewalttat gestorben ist. Die Hinterbliebenenversorgung steht aber nur der Witwe, dem Witwer, den Waisen und den Verwandten der aufsteigenden Linie (z.B. Eltern) zu. Der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft erhält dagegen keine Hinterbliebenenversorgung. Das OEG sieht für ihn auch dann keine Leistungen vor, wenn er nach dem gewaltsamen Tod des anderen Lebenspartners unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung der gemeinsamen Kinder übernimmt.
Der Beschwerdeführer (Bf) lebte in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Der Beziehung entstammen Zwillinge. Der Bf war erwerbstätig und erwirtschaftete den Unterhalt der Familie. Seine Partnerin betreute die Kinder. Eine Eheschließung war geplant. Sechs Monate nach der Geburt der Kinder wurde die Partnerin des Bf ermordet. Der Bf, der drei Jahre unbezahlten Urlaub genommen hat, um seine Kinder zu betreuen, beantragte für sich die Gewährung einer Hinterbliebenenrente. Der Antrag blieb im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ohne Erfolg. Seine Vb war erfolgreich.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Die Vb ist zulässig. Zwar hat der Bf in den Ausgangsverfahren keine verfassungsrechtlichen Erwägungen angestellt. Unzulässig wird dadurch seine Vb nicht. Der Verfassungsbeschwerdeführer kann sich im fachgerichtlichen Ausgangsverfahren regelmäßig damit begnügen, auf eine ihm günstige Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts hinzuwirken, ohne dass ihm daraus prozessuale Nachteile im Verfahren der Verfassungsbeschwerde erwachsen. Es ist durch das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) nicht gefordert, dass er bereits das fachgerichtliche Verfahren auch als "Verfassungsprozess" führt.
2. Die Vb ist begründet. Die angegriffenen Vorschriften differenzieren zwischen verheirateten und unverheirateten Elternteilen, die nach dem gewaltsamen Tod des anderen Elternteils gemeinsame Kinder betreuen. Bei verheirateten Eltern wird der nach bürgerlichem Recht bestehende Anspruch eines Ehegatten auf Unterhalt wegen Kinderbetreuung durch eine Hinterbliebenenrente nach dem OEG abgesichert; der Anspruch eines nichtverheirateten Partners auf Kinderbetreuungsunterhalt (§ 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB) wird dagegen nicht abgesichert. Diese Unterscheidung lässt sich verfassungsrechtlich nicht hinreichend rechtfertigen.
Zwar bestehen erhebliche rechtliche Unterschiede zwischen dem Anspruch eines nichtehelichen Partners und dem Anspruch eines Ehegatten auf Unterhalt wegen Kinderbetreuung. Insbesondere ist der Anspruch des nichtehelichen Elternteils grundsätzlich auf drei Jahre befristet, während der eheliche und nacheheliche Betreuungsunterhalt in der Regel bis zum achten Lebensjahr des Kindes voll zu leisten ist. Diese Unterschiede rechtfertigen aber nicht den vollständigen Ausschluss des hinterbliebenen Elternteils eines nichtehelichen Kindes von jeglicher Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG. In den ersten drei Lebensjahren eines Kindes ist ein solcher Elternteil ebenso wie der eines ehelichen Kindes auf Unterhaltsleistungen angewiesen, wenn er in dieser Zeit das Kind persönlich betreut. Zumindest in diesem Zeitraum ist der Anspruch auf Betreuungsunterhalt für den nichtehelichen Partner genau so wichtig wie für einen getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass inzwischen mehr als 20 % aller Kinder bei ihren nicht verheirateten Eltern aufwachsen. Es ist davon auszugehen, dass der Anspruch auf Betreuungsunterhalt auch faktisch in vielen Fällen erfüllt wird und zwar häufig wie in Ehen in Form eines „Familienunterhalts“ in natura und auch über das dritte Lebensjahr des Kindes hinaus. In diesem Fall bildet er einen wichtigen Baustein bei der Absicherung desjenigen Elternteils eines nichtehelichen Kindes, der das Kind in den ersten drei Lebensjahren betreut. Es fehlt daher an hinreichend wichtigen Gründen, wenn der Gesetzgeber bei nicht miteinander verheirateten Eltern - im Gegensatz zu verheirateten Eltern - von einer Absicherung des Anspruchs auf Betreuungsunterhalt durch eine Hinterbliebenenrente nach dem OEG absieht.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 14.03.2005
Quelle: Pressemitteilung Nr. 26/2005 des BVerfG vom 11. März 2005
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