23.11.2024
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Urteil27.07.2005Bundesverfassungsgericht1 BvR 668/04
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Bundesverfassungsgericht Urteil27.07.2005

Regelungen des Nieder­säch­sischen Polizeigesetzes zur vorbeugenden Telefon­über­wachung nichtig

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht (BVerfG) hat die präventive Telefon­über­wachung untersagt. Die seit Ende 2003 in Niedersachsen mögliche Abhörbefugnis verstoße gegen das Grundgesetz und sei daher nichtig.

Die Regelungen des § 33 a Abs. 1 Nr. 2 und 3 des Nieder­säch­sischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds.SOG), die die Polizei zur Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung zum Zwecke der Verhütung und der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten ermächtigen, sind wegen Verstoßes gegen das Fernmel­de­ge­heimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) nichtig. Dies entschied der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts mit Urteil vom 27. Juli 2005. Der Nieder­säch­sische Gesetzgeber habe teilweise seine Gesetz­ge­bungs­kom­petenz überschritten. Da der Bundes­ge­setzgeber die Verfolgung von Straftaten durch Maßnahmen der Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung in der Straf­pro­zess­ordnung abschließend geregelt habe, seien die Länder insoweit von der Gesetzgebung ausgeschlossen. Zudem sei die gesetzliche Ermächtigung insgesamt nicht hinreichend bestimmt und genüge nicht den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes. Ferner fehlten im Gesetz Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebens­ge­staltung.

Damit war die Verfas­sungs­be­schwerde eines Richters, der sich durch die angegriffenen Regelungen in seinem Fernmel­de­ge­heimnis verletzt sah, erfolgreich.

Sachverhalt:

Das Nieder­säch­sische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG) wurde in der Vergangenheit mehrfach novelliert. Dabei wurden die Aufgabenfelder der Polizei erheblich ausgeweitet. Den neuen Aufgaben war gemeinsam, dass die polizeiliche Tätigkeit nunmehr bereits im Vorfeld von Gefahren und Straftaten einsetzen konnte, ohne dass eine Verdichtung des Sachverhalts zu einer konkreten Gefahr bzw. einem Anfangsverdacht gegeben sein musste. Ende 2003 wurde die hier angegriffene Bestimmung des § 33 a eingefügt. Absatz 1 Nr. 2 und 3 dieser Vorschrift lauten wie folgt:

(1) Die Polizei kann perso­nen­be­zogene Daten durch die Überwachung und Aufzeichnung der Telekom­mu­ni­kation erheben

1. ...

2. über Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden, wenn die Vorsorge für die Verfolgung oder die Verhütung dieser Straftaten auf andere Weise nicht möglich erscheint sowie

3. über Kontakt- und Begleitpersonen der in Nummer 2 genannten Personen, wenn dies zur Vorsorge für die Verfolgung oder zur Verhütung einer Straftat nach Nummer 2 unerlässlich ist.

Absatz 3 sieht für die Datenerhebung die Anordnung durch den Richter vor. Die Überwachung ist nicht nur auf die Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­inhalte gerichtet, sondern bezieht gemäß § 33 a Abs. 2 Nr. 2 und 3 Nds. SOG auch die Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­ver­bin­dungsdaten sowie die Standortkennung einer aktiv geschalteten Mobil­fun­kend­ein­richtung ein. Damit werden auch Informationen darüber zugänglich, wer mit wem wann wie lange telefoniert, welche SMS Verbindung gewählt oder welche Verbindung im Internet benutzt hat. Nach § 30 Abs. 4 Nds. SOG ist die betroffene Person über die Datenerhebung zu unterrichten, sobald dies ohne Gefährdung der Maßnahme möglich ist. § 30 Abs. 5 Nds. SOG benennt Ausnahmen von der Unter­rich­tungs­pflicht.

Der Beschwer­de­führer wendet sich mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde gegen § 33 a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds. SOG. Die Norm verletze sein Fernmel­de­ge­heimnis. Seine Telefon­ge­spräche könnten heimlich abgehört und aufgezeichnet werden, obwohl er unbescholten sei und ohne dass gegen ihn der Verdacht einer Straftat bestehe oder von ihm eine Gefahr ausginge. Auch sein Grundrecht auf freie Meinung­s­äu­ßerung sei verletzt. Ferner verletze die Regelung die Rechts­weg­ga­rantie. Da die Überwachung zu keiner Zeit mitgeteilt werde und sie auch nicht bemerkt werden könne, sei es unmöglich, während oder nach der Überwachung deren gerichtliche Kontrolle herbeizuführen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die angegriffenen Regelungen sind formell verfas­sungs­widrig

a) Im Änderungsgesetz fehlt der nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG (Zitiergebot) erforderliche Hinweis auf die Einschränkung des Art. 10 Abs. 1 GG (Fernmel­de­ge­heimnis). Die Nichtbeachtung des Zitiergebots bleibt für die Wirksamkeit des angegriffenen Gesetzes aber ohne Konsequenzen.

b) Der nieder­säch­sische Gesetzgeber hat seine Gesetz­ge­bungs­kom­petenz durch die Regelungen über die Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten überschritten.

Die Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung ist nicht auf die Verhütung von Straftaten beschränkt, sondern sieht in § 33 a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG auch die „Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten“ als eigenständiges Tatbe­stands­merkmal vor. Die Daten werden also zur Verwertung in einem künftigen Strafverfahren und damit zur Strafverfolgung erhoben. Eine solche Verfol­gungs­vorsorge gehört zum gerichtlichen Verfahren im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG und daher zur konkurrierenden Gesetzgebung.

Von der konkurrierenden Gesetzgebung zur Strafverfolgung hat der Bundes­ge­setzgeber im Bereich der Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung abschließend Gebrauch gemacht und sich dabei gegen zusätzliche, in das erweiterte Vorfeld einer Straftat vorgelagerte Maßnahmen entschieden. Dem Erfordernis eines frühzeitigen Einsatzes der Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung hat der Bundes­ge­setzgeber dadurch Rechnung getragen, dass er die Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen bereits im Vorbe­rei­tungs­stadium zulässt. Die gezielten Eingrenzungen könnten hinfällig werden, wenn die Länder vergleichbare Maßnahmen zur Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung ebenfalls mit dem Ziel der Sicherung späterer Strafverfolgung unter anderen, etwa geringeren, Voraussetzungen normieren könnten.

2. Die angegriffenen Normen sind auch in materieller Hinsicht nicht mit der Verfassung vereinbar. a) Die weite Ermächtigung des § 33 a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG zur Verhütung und zur Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten wird dem Bestimmt­heitsgebot nicht gerecht.

Die Telefon­über­wachung nach § 33 a Abs. 1 Nr. 2 Nds.SOG setzt voraus, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass jemand in der Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Das Gesetz setzt nicht einen konkreten, in der Entwicklung begriffenen Vorgang, dessen Planung oder eine Vorbe­rei­tungs­handlung voraus. Es genügt die auf Tatsachen gegründete Annahme, dass jemand Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Das Gesetz enthält keine einschränkenden Tatbe­stands­merkmale, die die – gerade im Bereich der Vorfel­der­mittlung schwierige – Abgrenzung eines harmlosen von dem in eine Straf­ta­ten­be­gehung mündenden Verhaltens ermöglichen. Die Ausrichtung auf „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ trägt nicht zu einer Präzisierung bei. Dieses Tatbe­stands­merkmal bietet keine Anhaltspunkte dafür, wann ein Verhalten auf die künftige Begehung solcher Straftaten hindeutet. Nicht hinreichend bestimmt ist ferner die Regelung in § 33 a Abs. 1 Nr. 3 Nds.SOG, die zurÜberwachung der Telekom­mu­ni­kation bei Kontakt- oder Begleitpersonen ermächtigt. Zu der Unsicherheit, wer als potenzieller Straftäter in Betracht kommt, tritt hier die Unklarheit, die mit dem Begriff der Kontakt- oder Begleitperson verbunden ist. Nach der gesetzlichen Definition ist dies jede Person, die mit dem potentiellen Straftäter so in Verbindung steht, dass durch sie Hinweise über die angenommene Straftat gewonnen werden können. Wann dies der Fall ist, lässt das Gesetz aber offen.

b) Die angegriffenen Normen genügen auch nicht den Anforderungen der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Die Überwachung der Telekom­mu­ni­kation auf der Grundlage des § 33 a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG ermöglicht einen schwerwiegenden Eingriff in das Fernmel­de­ge­heimnis. Durch die Datenerhebung lassen sich Einblicke insbesondere in das Kommu­ni­ka­ti­o­ns­ver­halten, das soziale Umfeld sowie persönliche Gewohnheiten der überwachten Person gewinnen. Einbußen an grundrechtlich geschützter Freiheit dürfen nicht in unangemessenem Verhältnis zu den Zwecken stehen, denen die Grund­rechts­be­schränkung dient. Die Datenerhebung hat den legitimen Zweck, Straftaten von erheblicher Bedeutung zu verfolgen und zu verhüten. Das Gewicht dieses Belanges ist von dem durch die Norm geschützten Rechtsgut und der Intensität seiner Gefährdung abhängig. Begnügt sich das Gesetz mit nicht näher eingegrenzten Tatsachen, die die Annahme einer künftigen Straftat rechtfertigen, kann der schwere Eingriff in das Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­ge­heimnis nur dann als angemessen bewertet werden, wenn der zu schützende Gemein­wohl­belang allgemein sowie im konkreten Fall überragend wichtig ist. Eine solche Einengung aber fehlt in dem Gesetz.

Auch das Tatbe­stands­merkmal der „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ trägt den Anforderungen an das besondere Gewicht des zu verfolgenden Rechtsguts nicht Rechnung. Den im Gesetz aufgeführten Straftaten ist schon kein auf die Besonderheiten der Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung im Vorfeld zugeschnittenes gesetz­ge­be­risches Konzept zu entnehmen, das sich auf den Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter bezieht und beschränkt. Auch enthält das Gesetz keine abschließende Umschreibung der Straftaten. Eine einengende Auslegung des Begriffs der Straftaten von erheblicher Bedeutung ist ausgeschlossen. Das Defizit an Normenklarheit würde dadurch nur verschärft.

Hinzu kommt, dass § 33 a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG die für die Prognose und die Abwägung nutzbaren Tatsachen nicht hinreichend umschreibt. Die Bestimmt­heits­mängel wirken sich auf die Prüfung der Angemessenheit aus. Denn es fehlt an einem Maßstab für die abwägende Prüfung, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte des Gewichts des gefährdenden Rechtsguts ausreichen.

c) Schließlich enthält das Gesetz auch keine hinreichenden Vorkehrungen zur Vermeidung von Eingriffen in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebens­ge­staltung. Zwar gelten für die Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung nicht die für die Wohnrau­m­über­wachung in dem Urteil des Senats zum Großen Lauschangriff (BVerfGE 109, 279) dargelegten Anforderungen. Wegen des Risikos, dass die Abhörmaßnahme Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebens­ge­staltung erfasst, ist sie aber allenfalls bei einem besonders hohen Rang des gefährdeten Rechtsguts und einer hohen Intensität der Gefährdung hinzunehmen. Ferner müssen konkrete Anhaltspunkte auf einen unmittelbaren Bezug zur zukünftigen Begehung der Straftat schließen lassen. Erforderlich sind auch Sicherungen, dass Kommu­ni­ka­ti­o­ns­inhalte des höchst­per­sön­lichen Bereichs nicht verwertet und dass sie unverzüglich gelöscht werden, wenn es ausnahmsweise zu ihrer Erhebung gekommen ist. An derartigen Regelungen aber fehlt es im Gesetz.

Quelle: Bericht der ra-online Redaktion, Pressemitteilungen Nr. 10/05 v. 28.02.2005 und Nr. 68/05 v. 27.07.2005 des BVerfG

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