23.11.2024
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Dokument-Nr. 2441

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Bundesverfassungsgericht Beschluss04.04.2006

Bundes­ver­fas­sungs­gericht schränkt Rasterfahndung einRecht auf informationelle Selbst­be­stimmung darf nicht verletzt werden

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat der nach den Terror­an­schlägen vom 11. September 2001 eingeleiteten Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen Grenzen gesetzt. Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung ist mit dem Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung nur vereinbar, wenn zumindest eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. Als bloße Vorfeldmaßnahme entspricht eine solche Rasterfahndung verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht.

Daher reichen eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie in Hinblick auf terroristische Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden hat, oder außenpolitische Spannungslagen für die Anordnung der Rasterfahndung nicht aus. Vorausgesetzt ist vielmehr das Vorliegen weiterer Tatsachen, aus denen sich eine konkrete Gefahr, etwa für die Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge, ergibt.

Hintergrund und Sachverhalt:

1. Die Rasterfahndung ist eine besondere polizeiliche Fahndungs­methode unter Nutzung der elektronischen Daten­ver­a­r­beitung. Die Polizeibehörde lässt sich von anderen öffentlichen oder privaten Stellen perso­nen­be­zogene Daten übermitteln, um einen automatisierten Abgleich mit anderen Daten vorzunehmen. Durch den Abgleich soll diejenige Schnittmenge von Personen ermittelt werden, auf welche bestimmte, vorab festgelegte und für die weiteren Ermittlungen als bedeutsam angesehene Merkmale zutreffen. Die Rasterfahndung spielte vor allem bei der Bekämpfung des RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren in Deutschland eine Rolle. Nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 führten die Landes­po­li­zei­be­hörden unter Mitwirkung des Bundes­kri­mi­nalamtes eine bundesweit koordinierte Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen durch. Ziel war insbesondere die Erfassung so genannter „Schläfer“. Die Landesämter erhoben Daten unter anderem bei Universitäten, Einwoh­ner­mel­de­ämtern und dem Auslän­der­zen­tra­l­re­gister und rasterten die Datenbestände nach den folgenden Kriterien: männlich, Alter 18 bis 40 Jahre, (ehemaliger) Student, islamische Religi­o­ns­zu­ge­hö­rigkeit, Geburtsland. Die gewonnenen Daten wurden anschließend mit weiteren, durch das Bundes­kri­mi­nalamt erhobenen Datenbeständen abgeglichen. Die Rasterfahndung führte nicht dazu, dass „Schläfer“ aufgedeckt wurden.

An der Rasterfahndung beteiligte sich auch das Land Nordrhein- Westfalen. Im Oktober 2001 ordnete das Amtsgericht Düsseldorf auf Antrag des Polizei­prä­sidiums die Rasterfahndung an. Die Anordnung stützte sich auf § 31 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein- Westfalen in der Fassung vom 24. Februar 1990 (PolG NW 1990). Nach Absatz 1 dieser Vorschrift kann die Polizei von öffentlichen Stellen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs die Übermittlung von perso­nen­be­zogenen Daten bestimmter Personengruppen aus Dateien zum Zwecke des automatisierten Abgleichs mit anderen Datenbeständen verlangen, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist.

Die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen eine präventive polizeiliche Rasterfahndung angeordnet werden kann, sind in den Bundesländern unterschiedlich geregelt und in den letzten Jahren in vielen Ländern gemildert worden. Nach mehreren Landesgesetzen ist die Rasterfahndung seither auch ohne das Vorliegen einer konkreten Gefahr zulässig; die Ermächtigung zur Rasterfahndung ist also zu einer polizeilichen "Vorfeldbefugnis" umgestaltet worden. Danach kann die Maßnahme etwa bereits dann durchgeführt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dies zur Verhütung bestimmter Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich ist.

2. Der 1978 geborene Beschwer­de­führer ist marokkanischer Staats­an­ge­höriger islamischen Glaubens. Im Zeitpunkt der Anordnung der Rasterfahndung war er Student. Seine gegen den amtsge­richt­lichen Beschluss eingelegten Rechtsmittel waren vor dem Landgericht und dem Oberlan­des­gericht erfolglos. Auf seine Verfas­sungs­be­schwerde hin hat der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts festgestellt, dass die angegriffenen Beschlüsse den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung verletzen. Das Verfahren ist an das Landgericht zu erneuter Entscheidung zurückverwiesen worden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die angegriffenen Entscheidungen sind auf eine verfas­sungs­gemäße Eingriffs­grundlage gestützt. § 31 Abs. 1 PolG NW 1990, der das Grundrecht der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung beschränkt, genügt verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen allerdings nur bei einer Interpretation, die am Erfordernis einer auf Tatsachen gegründeten, konkreten Gefahr festhält.

a) Die in § 31 PolG NW 1990 geregelte Rasterfahndung dient dem Schutz hochrangiger Verfas­sungsgüter. Mit dem Bestand und der Sicherheit des Bundes und eines Landes sowie Leib, Leben und Freiheit einer Person, die vor Gefahren geschützt werden sollen, sind Schutzgüter von hohem verfas­sungs­recht­lichem Gewicht bezeichnet.

b) Zum Schutz dieser Rechtsgüter ermächtigt § 31 PolG NW 1990 zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung von erheblichem Gewicht.

Ein erhebliches Gewicht des Eingriffs ergibt sich bereits aus der Reichweite der Befugnis sowie der mit ihr eröffneten Möglichkeit der Verknüpfung von Daten aus unter­schied­lichen Beständen öffentlicher und privater Stellen. Die von der Befugnis erfassten Daten sind nach Art und Inhalt nicht eingegrenzt. Die gesondert genannten Identi­fi­zie­rungsdaten, also Name, Anschrift, Tag und Ort der Geburt stehen zwar im Vordergrund der Rasterfahndung. Hierauf beschränkt sich aber die gesetzliche Befugnis nicht. Vielmehr können auch alle anderen „für den Einzelfall benötigten Daten“ in die Fahndung einbezogen werden. Dementsprechend kann – wie vorliegend geschehen – das Ersuchen auf weitere Angaben etwa zur Religi­o­ns­zu­ge­hö­rigkeit, Staats­an­ge­hö­rigkeit, zum Familienstand und zur Studi­en­fach­richtung erstreckt werden. Hinzu kommt, dass sich aus der Zusammenführung und Kombination der übermittelten und sonstigen Datenbestände und ihrem wechselseitigen Abgleich vielfältige neue Informationen gewinnen lassen. Sie können nach Art und Inhalt eine besonders starke Persön­lich­keits­re­levanz besitzen und Persön­lich­keits­bilder ermöglichen. Die Weite der Zugriffs­be­fugnis wird zudem dadurch verstärkt, dass das nordrhein- westfälische Polizeigesetz keine Begrenzung des Umfangs der erfassten Daten vorsieht. Die Übermittlung kann von allen öffentlichen Stellen und Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs verlangt werden.

Die Intensität des Eingriffs ergibt sich auch mit dem Blick auf etwaige aus der Rasterfahndung resultierende weitere Folgen für die Betroffenen. Die Rasterfahndung begründet für die betroffenen Personen ein erhöhtes Risiko, Ziel weiterer behördlicher Ermitt­lungs­maß­nahmen zu werden. Dies hat etwa der Verlauf der nach dem 11. September 2001 durchgeführten Rasterfahndung gezeigt. Auch kann die Tatsache einer nach bestimmten Kriterien durchgeführten polizeilichen Rasterfahndung als solche – wenn sie bekannt wird – Vorurteile reproduzieren und die betroffenen Bevöl­ke­rungs­gruppen in der öffentlichen Wahrnehmung stigmatisieren.

Von Bedeutung ist schließlich, dass § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 verdachtslose Grund­recht­s­ein­griffe mit großer Streubreite vorsieht. Die Vorschrift setzt nicht voraus, dass der Adressat der Eingriffs­maßnahme für die Gefahr verantwortlich ist. Es können alle Personen einbezogen werden, welche die Auswahl­kri­terien erfüllen, ohne dass es Anforderungen an die Nähe dieser Personen zur Gefahr oder zu verdächtigen Personen gibt. Gegenüber den für die frühere Rasterfahndung typischen Konstellationen wird die Verdachts­lo­sigkeit der Maßnahme noch erhöht, wenn – wie dies bei terroristischen „Schläfern“ angenommen wurde – gerade die Unauffälligkeit und Angepasstheit des Verhaltens zu einem maßgeblichen Kriterium der Suche erhoben wird.

c) Angesichts des Gewichts der mit der Durchführung einer Rasterfahndung einhergehenden Grund­recht­s­ein­griffe ist diese nur dann angemessen, wenn der Gesetzgeber rechts­s­taatliche Anforderungen dadurch wahrt, dass er den Eingriff erst von der Schwelle einer hinreichend konkreten Gefahr für die bedrohten Rechtsgüter an vorsieht. Im Vorfeld einer konkreten Gefahr scheidet eine Rasterfahndung aus. Selbst bei höchstem Gewicht der drohenden Rechts­gut­be­ein­träch­tigung kann auf das Erfordernis einer hinreichenden Wahrschein­lichkeit eines Schaden­s­ein­tritts nicht verzichtet werden. Denn der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit gebietet, dass der Gesetzgeber intensive Grund­recht­s­ein­griffe erst von bestimmten Verdachts- oder Gefahrenstufen an vorsehen darf. § 31 PolG NW 1990 nennt als Eingriffs­schwelle die gegenwärtige Gefahr. Dies genügt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen. Die Anknüpfung an eine gegenwärtige Gefahr ist jedoch nicht von Verfassungs wegen geboten. Unter dieser Voraussetzung würde die Rasterfahndung regelmäßig zu spät kommen, um noch wirksam sein zu können. Verfas­sungs­rechtlich ausreichend ist es, wenn der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Rasterfahndung an das Erfordernis einer konkreten Gefahr für die betroffenen hochrangigen Rechtsgüter knüpft. Vorausgesetzt ist danach eine Sachlage, bei der im konkreten Fall die hinreichende Wahrschein­lichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für diese Rechtsgüter eintreten wird. Eine konkrete Gefahr in diesem Sinne kann auch eine Dauergefahr sein. Für die Annahme einer etwa von so genannten terroristischen Schläfern ausgehenden konkreten Dauergefahr sind allerdings hinreichend fundierte konkrete Tatsachen erforderlich. Eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie in Hinblick auf terroristische Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden hat, oder außenpolitische Spannungslagen reichen für die Anordnung der Rasterfahndung nicht aus. Die der Gefah­ren­fest­stellung zugrunde gelegten Annahmen und Schluss­fol­ge­rungen müssen vielmehr auf weiteren konkreten Tatsachen beruhen, etwa solchen, die auf die Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge hindeuten.

2. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht. Sie beruhen auf einer diesen Grundsätzen wider­spre­chenden ausweitenden Auslegung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990. Sie lassen außer Acht, dass die Verfas­sungs­mä­ßigkeit der Anordnung an das Vorliegen zumindest einer konkreten Gefahr gebunden ist und der dafür geforderte Grad der Wahrschein­lichkeit einer Rechts­gut­ver­letzung nicht nur mit Rücksicht auf die Größe eines möglichen Schadens, sondern auch im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs und die Eignung der Maßnahme zu seiner Abwehr zu bestimmen ist. Demgegenüber hat das Landgericht es schon für hinreichend erachtet, dass „die Möglichkeit eines besonders gravierenden Schaden­s­ein­tritts nicht ausgeschlossen“ ist, und das Oberlan­des­gericht will eine nur „entfernte Möglichkeit eines Schaden­s­ein­tritts“ ausreichen lassen. Sind – wie das Oberlan­des­gericht für die damalige Situation ausführt – „konkrete Anzeichen für Terroranschläge in Deutschland nicht bekannt“, sondern besteht lediglich eine auf Vermutungen beruhende „Möglichkeit solcher Anschläge“, dann handelt es sich bei der dennoch durchgeführten Rasterfahndung um eine Maßnahme im Vorfeld der Gefahrenabwehr, nicht aber um die Abwehr einer konkreten Gefahr.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 40/06 des BVerfG vom 23.05.2006

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