18.10.2024
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Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 33431

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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.09.2023

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerde wegen überhöhter Belas­tungs­grenze für Zuzahlungen zu Kranken­kassen­leistungenEntscheidung des Sozialgerichts stellt Verletzung des Willkürverbots dar

Das Bundes­verfassungs­gericht einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, die sich gegen eine sozial­ge­richtliche Entscheidung über die Höhe der Belas­tungs­grenze für Zuzahlungen zu Leistungen der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung richtet. Die Sache wird an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Die Beschwer­de­führerin lebt in einem Pflegeheim und bezieht eine Altersrente. Mit Bescheid vom 7. Juli 2021 erklärte der Sozia­l­hil­fe­träger, einen Teil der Heimkosten zu übernehmen, und setzte gleichzeitig einen von der Beschwer­de­führerin unmittelbar an die Einrichtung zu zahlenden Eigenanteil fest. Von den Renten­ein­künften brachte er eine monatliche Beklei­dungs­pau­schale in Höhe von 23,50 Euro und einen Barbe­trags­an­spruch in Höhe von 120,42 Euro in Abzug. Das verbleibende Einkommen ergebe den monatlich zu zahlenden Eigenanteil. Die Beschwer­de­führerin beantragte daraufhin bei ihrer Krankenkasse eine Begrenzung ihrer Zuzahlungen. Diese setzte eine anhand der Renteneinkünfte der Beschwer­de­führerin ermittelte Belastungsgrenze von 132,04 Euro für das Jahr 2022 fest. Die Belas­tungs­grenze sei nicht nach § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V auf Grundlage der Regel­be­da­rfsstufe 1 zu ermitteln gewesen, da die Beschwer­de­führerin ausschließlich Leistungen nach dem 7. Kapitel des SGB XII (Hilfe zur Pflege) erhalte. Den Widerspruch der Beschwer­de­führerin wies die Krankenkasse zurück. Die daraufhin erhobene Klage wies das Sozialgericht mit Gerichts­be­scheid vom 22. Juni 2022 als unbegründet zurück. Die Ausnahme nach § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V greife nicht. Zwar beziehe die Beschwer­de­führerin Hilfe zur Pflege nach § 61 SGB XII. Jedoch handle es sich dabei um keine Kostenübernahme im Sinne der Ausnah­me­vor­schrift des § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V. Zu fordern sei eine Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung nach den Regeln der Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß des 3. Kapitels des SGB XII. Eine solche Leistungs­ge­währung liege bei der Beschwer­de­führerin unstreitig nicht vor. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwer­de­führerin unter anderem einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.

Auslegung des SG mit Wortlaut und Systematik nicht vereinbar

Die Verfas­sungs­be­schwerde hat, soweit die Beschwer­de­führerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot rügt, in der Sache Erfolg. Der angegriffene Gerichts­be­scheid des Sozialgerichts verletzt das Willkürverbot. Die Annahme des Sozialgerichts, eine Kostenübernahme für die Unterbringung in einem Heim im Sinne des § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V setze die Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung voraus, die nach dem 3. Kapitel des SGB XII erfolge (§§ 27 ff. SGB XII), entbehrt jeder nachvoll­ziehbaren Grundlage. Eine Begründung dieser Annahme enthält die Entscheidung nicht. Es fehlt sowohl an einer Definition des Begriffs „Kosten der Unterbringung in einem Heim“ anhand der juristischen Ausle­gungs­me­thoden als auch an einer anschließenden Subsumtion. Die Vorgaben von § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V ergeben sich unmittelbar aus Wortlaut und Systematik der Regelung. Nach dem Wortlaut der Regelung ist Tatbe­stands­vor­aus­setzung die Kostentragung der Unterbringung des Versicherten in einem Heim oder einer anderen Einrichtung durch den Sozia­l­hil­fe­träger. Der Wortlaut der Vorschrift bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass zur Erfüllung der Tatbe­stands­vor­aus­set­zungen darüber hinaus erforderlich ist, dass der Sozia­l­hil­fe­träger Leistungen für Unterkunft und Verpflegung nach dem 3. Kapitel des SGB XII gewährt. Die Regelung des § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V nur dann anzuwenden, wenn die im Heim untergebrachten Versicherten auch Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII bezögen, hätte zur Folge, dass der Regelung keine eigenständige Bedeutung zukommen würde. Denn ein Versicherter, der Hilfen zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff. SGB XII erhält, wird bereits von § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 1 SGB V erfasst. Nach der Geset­zes­sys­tematik stellt sich § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V vielmehr als Sonderregelung für Versicherte dar, die nicht von Nr. 1 der Regelung erfasst werden, weil sie keine Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII beziehen, gleichwohl jedoch wegen der Heimun­ter­bringung bedürftig sind und deshalb Anspruch auf Leistungen des Sozia­l­hil­fe­trägers wie Hilfe zur Pflege haben. Die vom Sozialgericht vorgenommene – nicht weiter begründete – Einengung der Tatbe­stands­vor­aus­set­zungen widerspricht auch offensichtlich der gesetz­ge­be­rischen Konzeption, neben der Personengruppe der Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung im Alter und bei Erwer­bs­min­derung nach dem SGB XII einen eigenständigen Ausnah­me­tat­bestand für die gleichfalls einkom­mens­schwache Personengruppe der Bewohner insbesondere von Alten- und Pflegeheimen zu schaffen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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