15.11.2024
15.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss11.07.2006

Schmer­zens­geld­an­rechnung auf Leistungen für Asylbewerber verfas­sungs­widrigGesetzgeber muss aufgrund des Verstoßes gegen den Gleichheitssatz Neuregelung treffen

Asylbewerber, die nach einem Unfall Schmerzensgeld bekommen, können dies für sich behalten. Die Anrechnung von Schmerzensgeld auf Leistungen nach dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz ist verfas­sungs­widrig. Das hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Das Schmerzensgeld hat eine Sonderstellung. Es soll andauernde Erschwernisse und Nachteile ausgleichen und dem Opfer auch ein Stück weit Genugtuung verschaffen.

Das im Jahr 1993 in Kraft getretene Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz (AsylbLG) hat zur Sicherstellung des Lebens­un­terhalts von Asylbewerbern ein eigenständiges Leistungssystem außerhalb der Sozialhilfe geschaffen. Das Gesetz sieht unter anderem die vorrangige Gewährung von Sachleistungen gegenüber Geldleistungen vor. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG müssen die Leistungs­be­rech­tigten und ihre Familien­an­ge­hörigen Einkommen und Vermögen vor Eintritt von Leistungen aufbrauchen. Anders als im Sozia­l­hil­ferecht zählt zum anrechenbaren Einkommen und Vermögens eines Leistungs­be­rech­tigten auch eine Schmer­zens­geld­zahlung.

Der aus Bosnien-Herzegowina stammende Beschwer­de­führer und seine Familie erhielten Leistungen nach dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz. Im August 1997 wurden die Ehefrau und ein Kind des Beschwer­de­führers Opfer eines Verkehrsunfalls. Sie erhielten ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 DM. Daraufhin lehnte der Leistungsträger die weitere Gewährung von Leistungen ab, da das Schmerzensgeld als Vermögen im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG angerechnet werden müsse. Die hiergegen erhobene Klage des Beschwer­de­führers blieb in allen Instanzen ohne Erfolg. Auf seine Verfas­sungs­be­schwerde hin stellte der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts fest, dass es mit dem Gleichheitssatz unvereinbar ist, dass Asylbewerber Schmerzensgeld für ihren Lebensunterhalt einsetzen müssen, bevor sie staatliche Leistungen erhalten. Insoweit sei § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG verfas­sungs­widrig. Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, bis zum 30. Juni 2007 eine Neuregelung zu treffen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Asylbewerber werden im Hinblick auf das Schmerzensgeld im Vergleich zu Empfängern von Leistungen der Sozialhilfe und anderen Personengruppen, die einkommens- und vermö­gens­ab­hängige staatliche Fürsor­ge­leis­tungen erhalten, benachteiligt. Diese unter­schiedliche Behandlung ist nicht hinreichend gerechtfertigt.

Die dem Schmerzensgeld eigene Funktion verleiht ihm eine Sonderstellung innerhalb der sonstigen Einkommens- und Vermögensarten, der auch in der übrigen Rechtsordnung durchweg durch den Ausschluss der Anrechnung auf staatliche Fürsor­ge­leis­tungen Rechnung getragen wird. Das Schmerzensgeld dient vor allem dem Ausgleich einer erlittenen oder andauernden Beein­träch­tigung der körperlichen und seelischen Integrität, insbesondere auch dem Ausgleich von Erschwernissen, Nachteilen und Leiden, die über den Schadensfall hinaus anhalten und die durch die materielle Schaden­s­er­satz­leistung nicht abgedeckt sind. Zugleich trägt es dem Gedanken Rechnung, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet. Das Schmerzensgeld hat damit nicht die Funktion eines Beitrags zur materiellen Existenz­si­cherung. Die Gründe, die für das besondere Konzept der Sicherstellung des Lebensbedarfs von Asylbewerbern maßgeblich sind, tragen vor diesem Hintergrund die in der Anrechnung von Schmerzensgeld als Einkommen und Vermögen liegende Ungleich­be­handlung nicht.

Auch andere das besondere Konzept des Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setzes tragende Gesichtspunkte sind zur Rechtfertigung nicht geeignet. Es liegt auf der Hand, dass ein Verzicht auf die Berück­sich­tigung von Schmerzensgeld bei der Gewährung und Bemessung von Leistungen nach diesem Gesetz nicht das Ziel des Gesetzgebers in Frage stellt, den Anreiz zur Einreise von Ausländern aus wirtschaft­lichen Gründen zu verringern. Schmerzensgeld beruht nicht auf einer Quelle für den Erwerb von Einkommen, die kalkulierbar ist und die zu erschließen vernünf­ti­gerweise von Asylbewerbern angestrebt wird.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 104/06 des BVerfG vom 02.11.2006

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss3284

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI