24.11.2024
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Dokument-Nr. 10322

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Bundesverfassungsgericht Beschluss17.08.2010

BVerfG: Herabsetzende Kritik der Bundeszentrale für Politische Bildung an wissen­schaft­lichem Aufsatz verfas­sungs­widrigBundeszentrale wahrt gebotene rechts­s­taatliche Distanz nicht ausreichend

Die Herabsetzende Kritik der Bundeszentrale für Politische Bildung an einem wissen­schaft­lichen Aufsatz zum Thema Antisemitismus ist verfas­sungs­widrig. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Der Beschwer­de­führer ist emeritierter Professor der Politik­wis­sen­schaft. Im Jahr 2004 erschien ein von ihm verfasster Aufsatz mit dem Titel „Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte“ in der Zeitschrift „Deutschland Archiv“, die ein privater Verlag im Auftrag der Bundeszentrale für Politische Bildung herausgibt. Der Aufsatz befasst sich u. a. mit der Verbreitung des Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung während der NS-Zeit. Er vertritt die These, dass die Mehrheit der Deutschen seinerzeit nicht antisemitisch eingestellt gewesen sei, sondern mit den verfolgten Juden sympathisiert habe, wobei er unter anderem von einer „deutsch-jüdischen Symbiose unter dem Hakenkreuz“ spricht. Erst nach Auslieferung der Zeitschrift an mehrere tausend Abonnenten erlangte die Leitungsebene der Bundeszentrale Kenntnis vom Inhalt des Aufsatzes und richtete ein Schreiben an die Abonnenten, in dem sie die Veröf­fent­lichung des Aufsatzes, durch den sie ihre eigene Arbeit „desavouiert“ sehe, „außerordentlich“ bedauert und versichert, dass dieser „einmalige Vorgang“ sich nicht wiederholen werde; der Rest der betreffenden Auflage der Zeitschrift werde makuliert. Das Schreiben endet mit einer Entschuldigung gegenüber allen Lesern, „welche sich durch den Beitrag verunglimpft fühlen“.

Beschwer­de­führer hält Ausführungen der Bundeszentrale für rufschädigend und herabsetzend

Der Beschwer­de­führer vertritt die Auffassung, dass die Ausführungen in dem Schreiben der Bundeszentrale für ihn als Mensch und Wissenschaftler rufschädigend und herabsetzend seien. Seine Klage vor den Verwal­tungs­ge­richten blieb in allen Instanzen erfolglos.

BVerfG sieht Beschwer­de­führer in allgemeinem Persön­lich­keitsrecht verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die hiergegen erhobene Verfas­sungs­be­schwerde zur Entscheidung angenommen und die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben. Das beanstandete Schreiben der Bundeszentrale für Politische Bildung wird ihrer Aufgabe, die Bürger mit Informationen zu versorgen und dabei Ausgewogenheit und rechts­s­taatliche Distanz zu wahren, nicht gerecht und verletzt den Beschwer­de­führer in seinem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dieser Grund­rechts­ver­letzung.

Von abschätziger Kommentierung durch Bundeszentrale geht Herabsetzung aus

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Das allgemeine Persön­lich­keitsrecht umfasst auch den Schutz vor solchen Äußerungen, die - ohne im engeren Sinne ehrverletzend zu sein - geeignet sind, sich abträglich auf das Ansehen des Einzelnen in der Öffentlichkeit auszuwirken. Eine solche Herabsetzung geht von der abschätzigen Kommentierung des Aufsatzes in dem beanstandeten Schreiben der Bundeszentrale aus. Er wird als Autor eines Aufsatzes dargestellt, der nicht mehr diskursiv erörtert, sondern nur noch makuliert werden kann, was vor dem Hintergrund des sensiblen Themas Antisemitismus eine erhebliche Stigmatisierung des Betroffenen mit sich bringen kann.

Bundeszentrale kann sich nicht auf Recht auf Meinungs­freiheit berufen

Die Bundeszentrale kann sich nicht wie Private auf Grundrechte wie etwa die Meinungsfreiheit berufen. Sie nimmt als Anstalt des öffentlichen Rechts für die Bundesregierung die Aufgabe wahr, die Bürger mit solchen Informationen zu versorgen, deren diese zur Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung bedürfen. Im Rahmen ihres Bildungs­auftrags ist sie zwar nicht gehalten, alle grundrechtlich geschützten Meinungen formal gleich zu behandeln; vielmehr kann sie insoweit auch wertende Unter­schei­dungen treffen, wobei es ihr grundsätzlich nicht verwehrt ist, Extremmeinungen am Rande des politischen Spektrums nicht zu berücksichtigen und sie als solche zu bezeichnen. Da zu den Grundlagen ihrer eigenen Tätigkeit auch das öffentliche Vertrauen in die eigene Glaubwürdigkeit und Integrität gehört, kann es ein legitimes Interesse darstellen, sich von ihr zuzurechnenden Beiträgen, die von dem Anspruch einer ausgewogenen Infor­ma­ti­o­ns­tä­tigkeit auffällig abweichen, weil sie etwa extreme oder extremistische Meinungen vertreten, zu distanzieren, um so die eigene Reputation wieder­her­zu­stellen. Hierbei hat die Bundeszentrale jedoch Ausgewogenheit und rechts­s­taatliche Distanz zu wahren. Von vorneherein ausgeschlossen sind insoweit jedenfalls öffentliche Äußerungen gegenüber Einzelnen, die allein dem Bestreben dienen, eine behördliche Auffassung, namentlich eine von der Bundeszentrale für richtig gehaltene spezifische Geschichts­in­ter­pre­tation zur Geltung zu bringen und als einzig legitim oder vertretbar hinzustellen.

Bundeszentrale wahrt nicht den ihr einzuräumenden Einschätzungs- und Handlungs­spielraum

Hiervon ausgehend ist vorliegend nicht ersichtlich, dass das Schreiben der Bundeszentrale den ihr einzuräumenden Einschätzungs- und Handlungs­spielraum wahrt und als nach den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes erforderliche und angemessene Reaktion auf den Artikel des Beschwer­de­führers angesehen werden kann. Weder hinsichtlich der Ankündigung der Makulierung noch hinsichtlich der Entschuldigung für eine etwaige Verunglimpfung ist erkennbar, dass diese von dem legitimen Zweck gedeckt sein können.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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