18.10.2024
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Dokument-Nr. 33494

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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.11.2023

Klage gegen Legasthenie-Vermerk auf Zeugnis erfolgreich - Bemerkungen im Abiturzeugnis über die Nichtbewertung einzelner Leistungen sind aber grundsätzlich gebotenVerfassungs­beschwerden teilweise erfolgreich

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die in den bayerischen Abitur­zeug­nissen der an Legasthenie leidenden Beschwer­de­führer im Jahr 2010 angebrachten Bemerkungen über die Nichtbewertung ihrer Recht­schreib­leistungen die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzen, weil sie auf einer damals geübten diskri­mi­nie­renden Verwal­tung­s­praxis beruhen: Legasthenie ist eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Die angegriffenen Zeugnis­be­mer­kungen benachteiligen die Beschwer­de­führer.

Die Beschwer­de­führer, bei denen fachärztlich eine Legasthenie festgestellt worden war, bestanden im Jahr 2010 das Abitur in Bayern. Auf ihren Antrag flossen die Recht­schreib­leis­tungen – entsprechend der damaligen Verwal­tung­s­praxis – nicht beziehungsweise lediglich mit eingeschränktem Gewicht in die Abiturnote ein. In den Abitur­zeug­nissen der Beschwer­de­führer wurde dies vermerkt. Bei Schülerinnen und Schülern, bei denen Einzel­leis­tungen aus anderen Gründen nicht bewertet wurden, wurden nach der im Jahr 2010 in Bayern praktizierten Verwal­tung­s­praxis keine Zeugnis­be­mer­kungen angebracht. Die Beschwer­de­führer sind der Auffassung, dass die den angegriffenen Urteilen des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts zugrun­de­lie­genden Zeugnis­be­mer­kungen insbesondere gegen das Verbot der Benachteiligung behinderter Personen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen.

BVerfG bejahrt Grund­rechts­ver­letzung

Die nur teilweise zulässigen Verfas­sungs­be­schwerden sind im Ergebnis begründet. Die Anbringung der Zeugnis­be­mer­kungen über die Nichtbewertung der Recht­schreib­leis­tungen verletzt die Beschwer­de­führer in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Die bei den Beschwer­de­führern fachärztlich diagnostizierte Lese- und Recht­schreib­störung (Legasthenie) stellt eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar. Eine Behinderung im verfas­sungs­recht­lichen Sinne liegt vor, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Geringfügige Beein­träch­ti­gungen sind nicht erfasst, sondern nur Einschränkungen von Gewicht. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Bei einer Legasthenie beruhen die Defizite beim Lesen und Schreiben auf einer medizinisch messbaren neuro­bio­lo­gischen Hirnfunk­ti­o­ns­s­törung und damit auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand. Die Symptome dieser Funkti­o­ns­s­törung, nämlich eine deutliche Verlangsamung des Lesens, Schreibens und Textver­ständ­nisses und weit unter­durch­schnittliche Recht­schreib­fä­hig­keiten halten längerfristig, regelmäßig sogar lebenslang, an. Die damit verbundenen Einschränkungen einer individuellen und selbst­be­stimmten Lebensführung sind gewichtig.

Ungleich­be­handlung gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen gegeben

Legasthene Schülerinnen und Schüler mit Zeugnis­be­merkung werden gegenüber Schülerinnen und Schülern ohne Zeugnis­be­merkung benachteiligt. Eine solche Benachteiligung ist hier gegenüber drei Vergleichs­gruppen gegeben: Durch die Zeugnis­be­merkung verschlechtert sich die Situation der betroffenen Schüler mit einer Legasthenie gegenüber den Schülerinnen und Schülern, bei denen die Recht­schreib­leis­tungen bewertet wurden (Vergleichs­gruppe 1). Für Adressaten des Schul­ab­schluss­zeug­nisses liegt auf der Hand, dass eine solche Bemerkung nur dann angebracht wird, wenn die Recht­schreib­leis­tungen abweichend von den allgemein geltenden Anforderungen ausnahmsweise nicht bewertet wurden. Sie werden daraus den Schluss ziehen, dass der Zeugnisinhaber insoweit Defizite aufweist. Ferner dürfte regelmäßig angenommen werden, dass es sich um einen Legastheniker handelt. Nach der im Jahre 2010 in Bayern geübten Praxis bei der Anbringung von Zeugnis­be­mer­kungen ist auch eine Ungleichbehandlung gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen gegeben, bei denen Recht­schreib­leis­tungen und sonstige Prüfungs­leis­tungen nicht bewertet wurden, ohne dass ein Vermerk hierüber im Zeugnis angebracht wurde (Vergleichs­gruppe 2). Eine Ungleich­be­handlung von Legasthenikern gegenüber allen anderen Schülerinnen und Schülern liegt schließlich insofern vor, als auch die im Ermessen der einzelnen Lehrkraft stehende Nichtbewertung von Recht­schreib­leis­tungen nur im Zeugnis legasthener Schüler vermerkt wurde (Vergleichs­gruppe 3). Diese Benach­tei­li­gungen sind im konkreten Fall teilweise nicht gerechtfertigt. Zwar sind Zeugnis­be­mer­kungen über die Nichtbewertung prüfungs­re­le­vanter Leistungen nicht nur angemessen, sondern unter bestimmten Umständen sogar geboten. Gleichwohl ist die Benachteiligung der Beschwer­de­führer durch die Zeugnis­be­mer­kungen im Verhältnis zu den Vergleichs­gruppen 2 und 3 angesichts einer diskri­mi­nie­renden Verwal­tung­s­praxis im Jahr 2010 unzumutbar. Die Ungleich­be­handlung gegenüber der Vergleichs­gruppe 1 ist dagegen gerechtfertigt. Den Zeugnis­be­mer­kungen liegen legitime Ziele von Verfassungsrang zugrunde. Schon die Berück­sich­tigung der Rechtschreibung im Abiturzeugnis, auf deren Nichtbewertung die Zeugnis­be­mer­kungen verweisen, ist zulässig und dient einem Ziel von Verfassungsrang. Ziel schulischer Bildung ist auch die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu Persön­lich­keiten, die ihre individuelle Leistungs­fä­higkeit unabhängig von ihrer sozialen Herkunft entfalten und im Anschluss an die Schule ihrer Leistungs­fä­higkeit und Neigung entsprechend Ausbil­dungsgänge und Berufe frei wählen und zur Grundlage einer eigen­ver­ant­wort­lichen Lebensführung machen können. Als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife dient das Abiturzeugnis dem nach Art. 7 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehenen Ziel, allen Schülerinnen und Schülern die gleiche Chance zu eröffnen, entsprechend ihren erbrachten schulischen Leistungen und persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden. Dieser Zielsetzung wird der Gesetzgeber in besonderem Maße gerecht, wenn alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen und die unter­schiedliche Qualität der gezeigten Leistungen durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst und in allen Abschluss­zeug­nissen aussagekräftig und vergleichbar dokumentiert wird.

Vermerke dienen der Chancen­gleichheit

Auch die hier relevante Bewertung der Recht­schreib­leis­tungen dient dem verfas­sungs­recht­lichen Ziel der Ermöglichung eines bezogen auf die erbrachten schulischen Leistungen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf. Es ist gegenüber Schülern mit einer Legasthenie gerechtfertigt, die Rechtschreibung zum Gegenstand der durch das Abitur vermittelten allgemeinen Hochschulreife zu machen. Denn es gibt viele Berufe, in denen eine eigenständige orthografische Kompetenz notwendig ist. Ausgehend davon dienen Bemerkungen im Abschluss­zeugnis über eine von den allgemeinen Prüfungs­an­for­de­rungen abweichende Nichtbewertung prüfungs­re­le­vanter Leistungen auch als solche einem legitimen Ziel von Verfassungsrang, nämlich der Sicherung eines leistungs­bezogen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf. Ist aus dem Abschluss­zeugnis nicht erkennbar, dass im Einzelfall abweichend von den allgemeinen Prüfungs­an­for­de­rungen von einer Bewertung von Kompetenzen abgesehen wurde, bescheinigt das Zeugnis Leistungen, die so tatsächlich nicht erbracht wurden; es ist insoweit unwahr. Dadurch wird der chancengleiche Zugang zu Ausbildung und Beruf derjenigen Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt, die die entsprechenden Kompetenzen nachweisen mussten. Die Zeugnis­be­mer­kungen hätten nicht durch - gegenüber der Nichtbewertung der Recht­schreib­leis­tungen vorrangige - schulische Fördermaßnahmen zur Beseitigung des legas­the­nie­be­dingten Recht­schreib­de­fizits vermieden werden können. Eine rechtliche Schlech­ter­stellung von Menschen mit Behinderung ist nur dann zu rechtfertigen, wenn es nicht möglich oder zumutbar ist, die Benachteiligung durch auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahmen und Assis­tenz­systeme zu beseitigen und ihnen dadurch die gleichen Entfaltungs- und Betäti­gungs­mög­lich­keiten zu eröffnen wie Menschen ohne Behinderungen. Diese Pflicht zur Inklusion ist auch bei Schul­ab­schluss­prü­fungen zu beachten. Die Recht­schreib­leis­tungen der Beschwer­de­führer hätten nicht anstelle einer Nichtbewertung mit Zeugnis­be­merkung durch schulische Fördermaßnahmen so weit verbessert werden können, dass sie mit gleichen Erfolgschancen an der Prüfung hätten teilnehmen können wie ihre Mitschüler. Bemerkungen im Abschluss­zeugnis über eine ansonsten nicht erkennbare, nur auf Antrag erfolgte Nichtbewertung prüfungs­re­le­vanter Leistungen sind geeignet und erforderlich, das verfas­sungs­rechtliche Ziel eines leistungs­bezogen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf zu fördern. Sie sind auch grundsätzlich angemessen.

Öffentliches Interesse an der Transparenz über die tatsächlich erbrachten Leistungen überwiegt gegenläufige Interesse der Betroffenen

Zwar beeinträchtigt die mit einer Zeugnis­be­merkung regelmäßig verbundene Offenlegung eines behin­de­rungs­be­dingten Leistungs­de­fizits das Recht auf Darstellung der eigenen Person und kann die Erfolgschancen bei Bewerbungen verschlechtern. Auf der anderen Seite wird ein Antrag auf Nichtbewertung regelmäßig nur dann gestellt, wenn die Prognose ergibt, dass der Vorteil eines besseren Prüfungs­er­geb­nisses etwaige Nachteile aus der Zeugnis­be­merkung mit Blick auf die angestrebte Ausbildung oder berufliche Tätigkeit überwiegt. Demgegenüber wäre das öffentliche Interesse, allen Schulabgängern eines Landes gleiche Chancen auf einen der erbrachten schulischen Leistung entsprechenden Zugang zu Ausbildung und Beruf zu eröffnen, ohne einen Vermerk im Abschluss­zeugnis über eine ansonsten nicht erkennbare Nichtbewertung beeinträchtigt. Es würde dann fälschlich angenommen, dass bei allen Prüfungs­teil­nehmern dieselben durch schulische Bildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten nach allgemeinen Maßstäben bewertet und die Bewertungen bei der Notengebung einheitlich berücksichtigt wurden. Das Abiturzeugnis büßt dann insgesamt an Aussagekraft und Vergleich­barkeit ein und kann das verfas­sungs­rechtliche Ziel der Ermöglichung eines leistungs­bezogen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf nur noch eingeschränkt erfüllen. Damit überwiegt das öffentliche Interesse an der Herstellung von Transparenz über die tatsächlich erbrachten Leistungen das gegenläufige Interesse der Betroffenen, von einer Benachteiligung durch Offenlegung der Nichtbewertung von Leistungen wegen behin­de­rungs­be­dingter Einschränkungen verschont zu bleiben. Zeugnis­be­mer­kungen sind danach unter der Voraussetzung grundsätzlich angemessen, dass sie gleichmäßig angebracht werden und es der Entscheidung der Schüler und ihrer Eltern überlassen bleibt, ob wegen einer Behinderung von der Leistungs­be­wertung abgesehen werden soll. Bei der Abwägung ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die Offenlegung von Nicht­be­wer­tungen prüfungs­re­le­vanter Leistungen im Abiturzeugnis wegen behin­de­rungs­be­dingter Einschränkungen unter bestimmten Voraussetzungen verfas­sungs­rechtlich geboten sein kann; insbesondere bei Ausgestaltung des Abiturs derart, dass ihm der Gesetzgeber die allgemeine Hochschulreife beimisst, die als breiter, allgemeiner Quali­fi­ka­ti­o­ns­nachweis angelegt ist. Denn nur auf diese Weise kann ein möglichst schonender Ausgleich hergestellt werden zwischen dem Auftrag an den Staat, Schul­ab­schluss­prü­fungen so auszugestalten, dass alle Schulabgänger die gleiche Chance haben, entsprechend ihrer erbrachten schulischen Leistung und ihrer persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden, und dem nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geschützten Interesse daran, dass sich behin­de­rungs­be­dingte Beein­träch­ti­gungen der Leistungs­fä­higkeit bei Schul­ab­schluss­prü­fungen nicht nachteilig auswirken, zumal den Betroffenen im Regelfall ein Gesamtvorteil verbleibt. Gleichwohl sind die hier angegriffenen Zeugnis­be­mer­kungen den Beschwer­de­führern im Verhältnis zu den Vergleichs­gruppen 2 und 3 jedenfalls nicht zumutbar.

Beschwer­de­führer bekommen neues Zeugnis

Mit der Anbringung von Zeugnis­be­mer­kungen allein bei Schülern mit einer Legasthenie verfehlte die damalige Verwal­tung­s­praxis die verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben. Für eine solche Diskriminierung der legasthenen Schüler gegenüber den Schülern mit anderen Behinderungen und Schülern, bei denen nach dem Ermessen der Lehrkraft ebenfalls von einer Bewertung der Recht­schreib­leis­tungen abgesehen wurde, gab es keine Rechtfertigung. Das Gebot, im Falle einer Nichtbewertung von Teilleistungen eines Prüfungsfaches wegen behin­de­rungs­be­dingter Leistungs­ein­schrän­kungen eine Bemerkung hierüber im Abschluss­zeugnis anzubringen, steht mit den Anforderungen aus der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­vention (BRK) in Einklang. Eine Verletzung des Gebots der Chancen­gleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG kann nicht festgestellt werden. Die Nichtbewertung der Recht­schreib­leis­tungen war nicht etwa zur Herstellung von Chancen­gleichheit unter den Prüfungs­teil­nehmern geboten, sondern im Gegenteil geeignet, einen bezogen auf die unter­schiedliche Leistungs­fä­higkeit der Schülerinnen und Schüler chancengleichen Übergang in Ausbildung und Beruf zu beeinträchtigen. Die Urteile des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts sind aufzuheben. Damit werden die Urteile des Bayerischen Verwal­tungs­ge­richtshofs rechtskräftig, wonach den Beschwer­de­führern ein Abiturzeugnis ohne Zeugnis­be­merkung auszustellen ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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