Dokument-Nr. 33494
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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.11.2023
Klage gegen Legasthenie-Vermerk auf Zeugnis erfolgreich - Bemerkungen im Abiturzeugnis über die Nichtbewertung einzelner Leistungen sind aber grundsätzlich gebotenVerfassungsbeschwerden teilweise erfolgreich
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die in den bayerischen Abiturzeugnissen der an Legasthenie leidenden Beschwerdeführer im Jahr 2010 angebrachten Bemerkungen über die Nichtbewertung ihrer Rechtschreibleistungen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzen, weil sie auf einer damals geübten diskriminierenden Verwaltungspraxis beruhen: Legasthenie ist eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Die angegriffenen Zeugnisbemerkungen benachteiligen die Beschwerdeführer.
Die Beschwerdeführer, bei denen fachärztlich eine Legasthenie festgestellt worden war, bestanden im Jahr 2010 das Abitur in Bayern. Auf ihren Antrag flossen die Rechtschreibleistungen – entsprechend der damaligen Verwaltungspraxis – nicht beziehungsweise lediglich mit eingeschränktem Gewicht in die Abiturnote ein. In den Abiturzeugnissen der Beschwerdeführer wurde dies vermerkt. Bei Schülerinnen und Schülern, bei denen Einzelleistungen aus anderen Gründen nicht bewertet wurden, wurden nach der im Jahr 2010 in Bayern praktizierten Verwaltungspraxis keine Zeugnisbemerkungen angebracht. Die Beschwerdeführer sind der Auffassung, dass die den angegriffenen Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts zugrundeliegenden Zeugnisbemerkungen insbesondere gegen das Verbot der Benachteiligung behinderter Personen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und das Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen.
BVerfG bejahrt Grundrechtsverletzung
Die nur teilweise zulässigen Verfassungsbeschwerden sind im Ergebnis begründet. Die Anbringung der Zeugnisbemerkungen über die Nichtbewertung der Rechtschreibleistungen verletzt die Beschwerdeführer in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Die bei den Beschwerdeführern fachärztlich diagnostizierte Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) stellt eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar. Eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne liegt vor, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Geringfügige Beeinträchtigungen sind nicht erfasst, sondern nur Einschränkungen von Gewicht. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Bei einer Legasthenie beruhen die Defizite beim Lesen und Schreiben auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung und damit auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand. Die Symptome dieser Funktionsstörung, nämlich eine deutliche Verlangsamung des Lesens, Schreibens und Textverständnisses und weit unterdurchschnittliche Rechtschreibfähigkeiten halten längerfristig, regelmäßig sogar lebenslang, an. Die damit verbundenen Einschränkungen einer individuellen und selbstbestimmten Lebensführung sind gewichtig.
Ungleichbehandlung gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen gegeben
Legasthene Schülerinnen und Schüler mit Zeugnisbemerkung werden gegenüber Schülerinnen und Schülern ohne Zeugnisbemerkung benachteiligt. Eine solche Benachteiligung ist hier gegenüber drei Vergleichsgruppen gegeben: Durch die Zeugnisbemerkung verschlechtert sich die Situation der betroffenen Schüler mit einer Legasthenie gegenüber den Schülerinnen und Schülern, bei denen die Rechtschreibleistungen bewertet wurden (Vergleichsgruppe 1). Für Adressaten des Schulabschlusszeugnisses liegt auf der Hand, dass eine solche Bemerkung nur dann angebracht wird, wenn die Rechtschreibleistungen abweichend von den allgemein geltenden Anforderungen ausnahmsweise nicht bewertet wurden. Sie werden daraus den Schluss ziehen, dass der Zeugnisinhaber insoweit Defizite aufweist. Ferner dürfte regelmäßig angenommen werden, dass es sich um einen Legastheniker handelt. Nach der im Jahre 2010 in Bayern geübten Praxis bei der Anbringung von Zeugnisbemerkungen ist auch eine Ungleichbehandlung gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen gegeben, bei denen Rechtschreibleistungen und sonstige Prüfungsleistungen nicht bewertet wurden, ohne dass ein Vermerk hierüber im Zeugnis angebracht wurde (Vergleichsgruppe 2). Eine Ungleichbehandlung von Legasthenikern gegenüber allen anderen Schülerinnen und Schülern liegt schließlich insofern vor, als auch die im Ermessen der einzelnen Lehrkraft stehende Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen nur im Zeugnis legasthener Schüler vermerkt wurde (Vergleichsgruppe 3). Diese Benachteiligungen sind im konkreten Fall teilweise nicht gerechtfertigt. Zwar sind Zeugnisbemerkungen über die Nichtbewertung prüfungsrelevanter Leistungen nicht nur angemessen, sondern unter bestimmten Umständen sogar geboten. Gleichwohl ist die Benachteiligung der Beschwerdeführer durch die Zeugnisbemerkungen im Verhältnis zu den Vergleichsgruppen 2 und 3 angesichts einer diskriminierenden Verwaltungspraxis im Jahr 2010 unzumutbar. Die Ungleichbehandlung gegenüber der Vergleichsgruppe 1 ist dagegen gerechtfertigt. Den Zeugnisbemerkungen liegen legitime Ziele von Verfassungsrang zugrunde. Schon die Berücksichtigung der Rechtschreibung im Abiturzeugnis, auf deren Nichtbewertung die Zeugnisbemerkungen verweisen, ist zulässig und dient einem Ziel von Verfassungsrang. Ziel schulischer Bildung ist auch die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu Persönlichkeiten, die ihre individuelle Leistungsfähigkeit unabhängig von ihrer sozialen Herkunft entfalten und im Anschluss an die Schule ihrer Leistungsfähigkeit und Neigung entsprechend Ausbildungsgänge und Berufe frei wählen und zur Grundlage einer eigenverantwortlichen Lebensführung machen können. Als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife dient das Abiturzeugnis dem nach Art. 7 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehenen Ziel, allen Schülerinnen und Schülern die gleiche Chance zu eröffnen, entsprechend ihren erbrachten schulischen Leistungen und persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden. Dieser Zielsetzung wird der Gesetzgeber in besonderem Maße gerecht, wenn alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen und die unterschiedliche Qualität der gezeigten Leistungen durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst und in allen Abschlusszeugnissen aussagekräftig und vergleichbar dokumentiert wird.
Vermerke dienen der Chancengleichheit
Auch die hier relevante Bewertung der Rechtschreibleistungen dient dem verfassungsrechtlichen Ziel der Ermöglichung eines bezogen auf die erbrachten schulischen Leistungen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf. Es ist gegenüber Schülern mit einer Legasthenie gerechtfertigt, die Rechtschreibung zum Gegenstand der durch das Abitur vermittelten allgemeinen Hochschulreife zu machen. Denn es gibt viele Berufe, in denen eine eigenständige orthografische Kompetenz notwendig ist. Ausgehend davon dienen Bemerkungen im Abschlusszeugnis über eine von den allgemeinen Prüfungsanforderungen abweichende Nichtbewertung prüfungsrelevanter Leistungen auch als solche einem legitimen Ziel von Verfassungsrang, nämlich der Sicherung eines leistungsbezogen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf. Ist aus dem Abschlusszeugnis nicht erkennbar, dass im Einzelfall abweichend von den allgemeinen Prüfungsanforderungen von einer Bewertung von Kompetenzen abgesehen wurde, bescheinigt das Zeugnis Leistungen, die so tatsächlich nicht erbracht wurden; es ist insoweit unwahr. Dadurch wird der chancengleiche Zugang zu Ausbildung und Beruf derjenigen Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt, die die entsprechenden Kompetenzen nachweisen mussten. Die Zeugnisbemerkungen hätten nicht durch - gegenüber der Nichtbewertung der Rechtschreibleistungen vorrangige - schulische Fördermaßnahmen zur Beseitigung des legastheniebedingten Rechtschreibdefizits vermieden werden können. Eine rechtliche Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung ist nur dann zu rechtfertigen, wenn es nicht möglich oder zumutbar ist, die Benachteiligung durch auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahmen und Assistenzsysteme zu beseitigen und ihnen dadurch die gleichen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten zu eröffnen wie Menschen ohne Behinderungen. Diese Pflicht zur Inklusion ist auch bei Schulabschlussprüfungen zu beachten. Die Rechtschreibleistungen der Beschwerdeführer hätten nicht anstelle einer Nichtbewertung mit Zeugnisbemerkung durch schulische Fördermaßnahmen so weit verbessert werden können, dass sie mit gleichen Erfolgschancen an der Prüfung hätten teilnehmen können wie ihre Mitschüler. Bemerkungen im Abschlusszeugnis über eine ansonsten nicht erkennbare, nur auf Antrag erfolgte Nichtbewertung prüfungsrelevanter Leistungen sind geeignet und erforderlich, das verfassungsrechtliche Ziel eines leistungsbezogen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf zu fördern. Sie sind auch grundsätzlich angemessen.
Öffentliches Interesse an der Transparenz über die tatsächlich erbrachten Leistungen überwiegt gegenläufige Interesse der Betroffenen
Zwar beeinträchtigt die mit einer Zeugnisbemerkung regelmäßig verbundene Offenlegung eines behinderungsbedingten Leistungsdefizits das Recht auf Darstellung der eigenen Person und kann die Erfolgschancen bei Bewerbungen verschlechtern. Auf der anderen Seite wird ein Antrag auf Nichtbewertung regelmäßig nur dann gestellt, wenn die Prognose ergibt, dass der Vorteil eines besseren Prüfungsergebnisses etwaige Nachteile aus der Zeugnisbemerkung mit Blick auf die angestrebte Ausbildung oder berufliche Tätigkeit überwiegt. Demgegenüber wäre das öffentliche Interesse, allen Schulabgängern eines Landes gleiche Chancen auf einen der erbrachten schulischen Leistung entsprechenden Zugang zu Ausbildung und Beruf zu eröffnen, ohne einen Vermerk im Abschlusszeugnis über eine ansonsten nicht erkennbare Nichtbewertung beeinträchtigt. Es würde dann fälschlich angenommen, dass bei allen Prüfungsteilnehmern dieselben durch schulische Bildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten nach allgemeinen Maßstäben bewertet und die Bewertungen bei der Notengebung einheitlich berücksichtigt wurden. Das Abiturzeugnis büßt dann insgesamt an Aussagekraft und Vergleichbarkeit ein und kann das verfassungsrechtliche Ziel der Ermöglichung eines leistungsbezogen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf nur noch eingeschränkt erfüllen. Damit überwiegt das öffentliche Interesse an der Herstellung von Transparenz über die tatsächlich erbrachten Leistungen das gegenläufige Interesse der Betroffenen, von einer Benachteiligung durch Offenlegung der Nichtbewertung von Leistungen wegen behinderungsbedingter Einschränkungen verschont zu bleiben. Zeugnisbemerkungen sind danach unter der Voraussetzung grundsätzlich angemessen, dass sie gleichmäßig angebracht werden und es der Entscheidung der Schüler und ihrer Eltern überlassen bleibt, ob wegen einer Behinderung von der Leistungsbewertung abgesehen werden soll. Bei der Abwägung ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die Offenlegung von Nichtbewertungen prüfungsrelevanter Leistungen im Abiturzeugnis wegen behinderungsbedingter Einschränkungen unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsrechtlich geboten sein kann; insbesondere bei Ausgestaltung des Abiturs derart, dass ihm der Gesetzgeber die allgemeine Hochschulreife beimisst, die als breiter, allgemeiner Qualifikationsnachweis angelegt ist. Denn nur auf diese Weise kann ein möglichst schonender Ausgleich hergestellt werden zwischen dem Auftrag an den Staat, Schulabschlussprüfungen so auszugestalten, dass alle Schulabgänger die gleiche Chance haben, entsprechend ihrer erbrachten schulischen Leistung und ihrer persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden, und dem nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geschützten Interesse daran, dass sich behinderungsbedingte Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit bei Schulabschlussprüfungen nicht nachteilig auswirken, zumal den Betroffenen im Regelfall ein Gesamtvorteil verbleibt. Gleichwohl sind die hier angegriffenen Zeugnisbemerkungen den Beschwerdeführern im Verhältnis zu den Vergleichsgruppen 2 und 3 jedenfalls nicht zumutbar.
Beschwerdeführer bekommen neues Zeugnis
Mit der Anbringung von Zeugnisbemerkungen allein bei Schülern mit einer Legasthenie verfehlte die damalige Verwaltungspraxis die verfassungsrechtlichen Vorgaben. Für eine solche Diskriminierung der legasthenen Schüler gegenüber den Schülern mit anderen Behinderungen und Schülern, bei denen nach dem Ermessen der Lehrkraft ebenfalls von einer Bewertung der Rechtschreibleistungen abgesehen wurde, gab es keine Rechtfertigung. Das Gebot, im Falle einer Nichtbewertung von Teilleistungen eines Prüfungsfaches wegen behinderungsbedingter Leistungseinschränkungen eine Bemerkung hierüber im Abschlusszeugnis anzubringen, steht mit den Anforderungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) in Einklang. Eine Verletzung des Gebots der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG kann nicht festgestellt werden. Die Nichtbewertung der Rechtschreibleistungen war nicht etwa zur Herstellung von Chancengleichheit unter den Prüfungsteilnehmern geboten, sondern im Gegenteil geeignet, einen bezogen auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler chancengleichen Übergang in Ausbildung und Beruf zu beeinträchtigen. Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts sind aufzuheben. Damit werden die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs rechtskräftig, wonach den Beschwerdeführern ein Abiturzeugnis ohne Zeugnisbemerkung auszustellen ist.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 22.11.2023
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)
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