15.11.2024
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Dokument-Nr. 326

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Entscheidung22.03.2005Bundesverfassungsgericht1 BvR 2357/04
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Bundesverfassungsgericht Entscheidung22.03.2005

Steuerbehörden dürfen ab April Bankkonten kontrollierenBundes­ver­fas­sungs­gericht lehnt einstweilige Anordnung gegen automatisierten Abruf von Kontostammdaten ab

Die Antragsteller wenden sich gegen Regelungen zum automatisierten Abruf von Kontostammdaten, der zu Zwecken der Erhebung von Steuern und Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen sowie der Überprüfung der Berechtigung für Sozia­l­leis­tungen erfolgen kann. Ihr Antrag, die Regelungen vorläufig auszusetzen, hatte keinen Erfolg. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts lehnte den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab.

Antragsteller sind ein inländisches Kreditinstitut, ein Rechtsanwalt und Notar, eine Bezieherin von Wohngeld sowie ein Empfänger von Sozialhilfe. Sie rügen die durch das Gesetz zur Förderung der Steuer­ehr­lichkeit vom 23. Dezember 2003 in die Abgabenordnung eingefügten Vorschriften des § 93 Abs. 7 und Abs. 8 und des § 93 b als verfas­sungs­widrig. Die Neuregelung erlaubt den Finanzbehörden im Steuerverfahren ab dem 1. April 2005 - im Anschluss an den Ablauf der so genannten Steueramnestie - einen Zugriff auf bestimmte Daten, die von den Kredi­t­in­stituten nach § 24 c des Kredit­we­sen­ge­setzes vorgehalten werden müssen. Dabei handelt es sich um die Kontostammdaten der Bankkunden und sonstigen Verfü­gungs­be­rech­tigten, wie z.B. Name, Geburtsdatum, Kontonummern und Depots. Kontenstände und -bewegungen können auf diese Weise nicht abgefragt werden. Über die Finanzbehörden erhalten auch andere Behörden der Sozia­l­ver­waltung und Gerichte Auskunft, wenn die anfragende Behörde oder das anfragende Gericht ein Gesetz anwendet, das an „Begriffe des Einkom­men­steu­er­ge­setzes“ (z.B. Einkommen, Einkünfte) anknüpft und eigene Ermittlungen dieser Behörde ihrer Versicherung nach nicht zum Ziel geführt haben oder keinen Erfolg versprechen.

Das Bundes­mi­nis­terium der Finanzen hat am 10. März 2005 einen Anwen­dungs­erlass zur Abgabenordnung verfügt. Dieser sieht unter anderem vor, dass ein Abruf der Kontostammdaten zum Zwecke der Steuererhebung nur anlassbezogen und zielgerichtet und unter Bezugnahme auf eindeutig bestimmte Personen zulässig ist. Der Anwen­dungs­erlass regelt darüber hinaus die Benach­rich­tigung der Betroffenen in verschiedenen Verfah­rens­stadien. Für den Kontenabruf durch andere Behörden oder Gerichte nimmt der Anwen­dungs­erlass eine Konkretisierung der vom Gesetz betroffenen Bereiche der Sozia­l­ver­waltung vor. Für den Datenabruf ist die Subsidiarität in der Weise vorgesehen, dass er nicht als erforderlich angesehen wird, wenn es zur Aufklärung des Sachverhalts ein ebenso geeignetes, aber für den Betroffenen weniger belastendes Beweismittel gibt, etwa die Auskunft durch den Betroffenen.

Die Antragsteller rügen eine Verletzung ihres Rechts auf informationelle Selbst­be­stimmung, ihres Grundrechts auf Berufsfreiheit und ihres Anspruchs auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Der Ausgang der Verfas­sungs­be­schwerde ist offen. Daher ist über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, ist dabei ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Bei der Folgenabwägung kann bedeutsam werden, ob von den Behörden auf der Anwendungsebene Vorkehrungen getroffen wurden, die zu einer Nachteils­be­grenzung führen. Die Folgenabwägung geht zu Lasten der Antragsteller aus:

1. Bei Erlass einer einstweiligen Anordnung (und späterer Erfolglosigkeit der Vb) würde den zuständigen Behörden und Gerichten vorläufig ein Instrument genommen, das zum gleichmäßigen Vollzug von Abgaben- und Sozia­l­leis­tungs­ge­setzen beitragen soll. Die Gleichmäßigkeit der Erhebung von Steuern und Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen sowie die Verhinderung des unberechtigten Bezugs von Sozia­l­leis­tungen sind gewichtige Gemein­wohl­belange. Bei hinreichendem Anlass können allerdings schon bisher Auskünfte bei Kredi­t­in­stituten, insbesondere über konkrete Kontostände und -bewegungen, verlangt werden. Dafür muss aber bekannt sein, bei welchen Kredi­t­in­stituten der Steuer­pflichtige Konten unterhält. Diese Kenntnis wird durch die Abfrage der Kontostammdaten erlangt. Die Möglichkeit zur Ermittlung zuvor nicht bekannter Konten und Depots entfiele beim Erlass der einstweiligen Anordnung mit dem Risiko des Fortbestandes von Vollzugs­de­fiziten im Steuer- und Sozialrecht.

2. Träte das angegriffene Gesetz dagegen am 1. April 2005 in Kraft, wären die Behörden und Gerichte befugt, durch Abruf der Kontostammdaten perso­nen­be­zo­genene Informationen zu gewinnen, die vorher nicht zugänglich waren. Der daraus folgende Nachteil für den Steuer­pflichtigen besteht nicht darin, dass den Finanzbehörden auf diese Weise einzelne der für die Besteuerung maßgebenden tatsächlichen Umstände bekannt werden können und die Steuer dementsprechend nach den gesetzlichen Vorgaben festgesetzt werden kann, sondern in der Kenntnis perso­nen­be­zogener Daten über das Bestehen von Konten und Depots, die zur weiteren Ermittlung von steue­rer­heb­lichen Tatsachen genutzt werden kann. Die Steuer­pflichtigen sind zwar ohnehin zur Offenlegung der steue­rer­heb­lichen Tatsachen verpflichtet, grundsätzlich aber nicht zur Angabe von Konten. Daran ändert die Neuregelung nichts, erlaubt aber eine Erkennt­ni­ser­langung über Konten und Depots ohne Mitwirkung des Steuer­pflichtigen. Die damit verbundenen Nachteile treten hinter die zurück, die beim Nicht-In-Kraft-Treten des Gesetzes für die Allgemeinheit zu erwarten wären, jedenfalls solange die im Anwen­dungs­erlass verfügten Einschränkungen der Kontenabfrage beim Gesetzesvollzug beachtet werden.

a) Die Schwere des Eingriffs für den Steuer­pflichtigen hängt davon ab, ob der Abruf der Kontostammdaten an einengende Tatbe­stands­merkmale, insbesondere an einen konkreten Anlass geknüpft ist. Das Gesetz schließt die Ermittlung von Kontostammdaten "ins Blaue hinein" oder durch anlasslosen rasterhaften Abgleich aller Konten aus. Für die Schwere des Nachteils ist ferner erheblich, ob der Betroffene ausreichende Rechts­schutz­mög­lich­keiten hat. Die Neuregelung knüpft die neuen Ermitt­lungs­be­fugnisse an tatbestandliche Voraussetzungen, die auch sonst bei finanz­be­hörd­lichen Ermittlungen gelten. Der vom Bundes­mi­nis­terium der Finanzen verfügte Anwen­dungs­erlass zur Abgabenordnung konkretisiert die Schutz­vor­keh­rungen für die Betroffenen und schwächt damit die möglichen Belastungen durch die neuen Ermitt­lungs­be­fugnisse ab. So betont der Anwen­dungs­erlass, dass ein Abruf der Kontostammdaten nur anlassbezogen und zielgerichtet und unter Bezugnahme auf eindeutig bestimmte Personen zulässig ist. Die vorgesehenen Formulare erfordern die Dokumentation des Abrufgesuchs und die Angabe des Aktenzeichens. Der Anwen­dungs­erlass stellt im Übrigen grundsätzlich eine vorherige, jedenfalls aber eine nachfolgende Information des Betroffenen sicher, die es ihm erlaubt, Rechtsschutz zu erlangen. Zudem sehen die zurzeit im Bundes­fi­nanz­mi­nis­terium für Finanzen vorbereiteten Formulare eine Dokumentation der Abrufmaßnahme vor.

b) Bei einem Kontoabruf im Besteu­e­rungs­ver­fahren eines Berufs­ge­heim­nis­trägers trägt der Anwen­dungs­erlass einer möglichen Beein­träch­tigung des Vertrau­ens­ver­hält­nisses zu Dritten Rechnung. Er gebietet eine zusätzliche Güterabwägung zwischen der Verschwie­gen­heits­pflicht des Berufs­ge­heim­nis­trägers und der Bedeutung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Ferner wird ausdrücklich untersagt, dass Kontroll­mit­tei­lungen über Anderkonten der Berufs­ge­heim­nis­träger, die in seinem Besteu­e­rungs­ver­fahren festgestellt werden, ergehen.

c) Auch im Hinblick auf die von den Auskunft­s­er­suchen der Behörden der Sozia­l­ver­waltung Betroffenen werden die möglichen Nachteile durch den Anwen­dungs­erlass und die für das Ersuchen vorgesehenen Formulare gemildert. Es ist davon auszugehen, dass die ersuchten Finanzbehörden solchen Ersuchen keine Folge leisten werden, die den Anforderungen des Anwen­dungs­er­lasses und den für das Auskunft­s­er­suchen vorgesehenen Formularen nicht genügen.

Zwar ist der Abgabenordnung nicht zuverlässig zu entnehmen, welche Bereiche der Sozia­l­ver­waltung betroffen sind. Der Anwen­dungs­erlass benennt sie aber in abschließender Weise.

Im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes sorgen der Anwen­dungs­erlass und ergänzend die Formulare für Korrektive. Das Formular verlangt neben der Angabe des Aktenzeichens Erläuterungen zu den Gründen des Ersuchens, darunter auch zu dessen Erfor­der­lichkeit. Der Anwen­dungs­erlass geht im Übrigen von der Annahme aus, dass der Betroffene spätestens dann, wenn die Abfrage zu rechtlichen Folgen bei der Erhebung von Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen oder der Festsetzung oder Korrektur von Sozia­l­leis­tungen führt, Kenntnis von ihr erlangt und die Gerichte anrufen kann.

d) Die den Kredi­t­in­stituten durch die Abruf­mög­lichkeit drohenden Nachteile sind ebenfalls nicht so gewichtig, dass eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist. Die mit der Nutzung der Datei für Zwecke des Kontenabrufs verbundenen Kosten der Kreditinstitute sind vergleichsweise gering. Da die Bank gegenüber ihren Kunden nicht treuwidrig handelt, wenn eine Behörde kraft gesetzlicher Ermächtigung ohne Kenntnis und Mitwirkung der Bank automatisiert Daten abruft, ist eine Verletzung des vertraglichen Vertrau­ens­ver­hält­nisses nicht zu befürchten.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 28/2005 des BVerfG vom 23.03.2005

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