15.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss14.10.2008

Versagung von Beratungshilfe in Angelegenheiten des Steuerrechts verfas­sungs­widrigRechts­be­ra­tungs­an­spruch für Mittellose darf nicht auf Rechtsgebiete beschränkt sein

Die Beschwer­de­führerin erhielt einen Bescheid der Familienkasse, dass sie zuviel gezahltes Kindergeld erstatten sollte. Dafür begehrte sie Beratungshilfe nach dem Beratungs­hil­fe­gesetz. Das Amtsgericht entsprach ihrem Antrag nicht, sondern wies diesen mit der Begründung zurück, Kinder­geld­an­ge­le­gen­heiten seien der Finanz­ge­richts­barkeit zugeordnet und würden deshalb nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 BerHG keinen Anspruch auf Beratungshilfe begründen. Nach dieser Bestimmung werde Beratungshilfe zwar in Angelegenheiten des Sozialrechts gewährt, nicht aber solchen des Steuerrechts.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob diese Entscheidung des Amtsgerichts auf und stellte fest, das § 2 Absatz 2 des Beratungs­hil­fe­ge­setzes mit Art. 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar ist, soweit die Norm die Gewährung von Beratungshilfe nicht auch in Angelegenheiten des Steuerrechts ermöglicht. Für die Übergangszeit bis zu einer verfas­sungs­gemäßen Neuregelung durch den Gesetzgeber, für die ihm verschiedene Möglichkeiten der Neugestaltung zur Verfügung stehen, ist Beratungshilfe aber grundsätzlich auch in Angelegenheiten des Steuerrechts zu gewähren, sofern hierfür die allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen des § 1 Absatz 2 BerHG vorliegen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. 1. Der verfas­sungs­rechtliche Maßstab der Rechtsschutzgleichheit, der sich aus dem Sozial­staats­prinzip, dem Rechts­s­taats­grundsatz und dem allgemeinen Gleichheitssatz ableitet, wurde bisher allein bei der Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes angewendet. An diesem Grundsatz wurde insbesondere die fachge­richtliche Prüfung der Erfolgsaussicht einer beabsichtigten Rechts­ver­folgung oder Rechts­ver­tei­digung als Voraussetzung für die Bewilligung von Prozess­kos­tenhilfe gemessen. Ob sich daraus auch eine Pflicht zur Angleichung der Stellung Unbemittelter an die Bemittelten für den außer­ge­richt­lichen Rechtsschutz herleitet, wurde vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht hingegen bisher ausdrücklich offen gelassen. Der allgemeine Gleichheitssatz in Verbindung mit dem Sozialstaats- und dem Rechts­s­taats­prinzip verlangt aber, dass der Gesetzgeber auch im außer­ge­richt­lichen Bereich die erforderlichen Vorkehrungen trifft, damit der Rechtsuchende mit der Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Rechte nicht von vornherein an mangelnden Einkünften oder ungenügendem Vermögen scheitert.

2. Die Erwägung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zum Anspruch auf Rechts­schutz­gleichheit im prozessualen Bereich, dass der gleiche Rechtszugang jedermann unabhängig von seinen Einkunfts- und Vermö­gens­ver­hält­nissen möglich sein muss, gilt entsprechend auch für die außer­ge­richtliche Beratung. Angesichts der rechtlichen Durchdringung nahezu aller Lebensbereiche ist der Bürger vielfach auf fachkundigen Rechtsrat angewiesen, um seine Rechte erkennen, bewerten und darüber entscheiden zu können, ob und mit welchen Erfolgs­aus­sichten er sie - gegebenenfalls auch gerichtlich - durchsetzen kann. Nicht anders als bei der Ermöglichung des Zugangs zu den Gerichten verlangt Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaats- und Rechts­s­taats­grundsatz auch bei der Schaffung der rechtlichen Rahmen­be­din­gungen zur Gewährleistung der Rechts­wahr­neh­mungs­gleichheit keine vollständige Gleichstellung Unbemittelter mit Bemittelten, sondern nur eine weitgehende Angleichung. Auch hier braucht der Unbemittelte nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt. Insbesondere darf der Rechtsuchende zunächst auf zumutbare andere Möglichkeiten für eine fachkundige Hilfe bei der Rechts­wahr­nehmung verwiesen werden.

II. Bei der Schaffung der rechtlichen Rahmen­be­din­gungen zur Gewährleistung der Rechts­wahr­neh­mungs­gleichheit kommt dem Gesetzgeber ein großer Gestal­tungs­spielraum zu. Er kann daher die Rechts­wahr­neh­mungs­gleichheit von nicht hinreichend Bemittelten und Begüterten auf unter­schiedliche Weise regeln. Mit dem Beratungs­hil­fe­gesetz (BerHG) vom 18. Juni 1980 hat der Gesetzgeber den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen zur Gewährleistung der Rechts­wahr­neh­mungs­gleichheit im Grundsatz Genüge getan.

III. Allerdings ist die Regelung des § 2 Absatz 2 BerHG mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar, wonach Beratungshilfe nur in den dort ausdrücklich nach Rechtsgebieten aufgezählten Angelegenheiten gewährt wird. Die abschließende Aufzählung der beratungs­hil­fe­fähigen Angelegenheiten, zu denen zwar solche des Sozialrechts, nicht aber solche des Steuerrechts gehören, führt zu einer Ungleichbehandlung von Rechtsuchenden in beratungs­hil­fe­fähigen Angelegenheiten gegenüber solchen in nicht von der Aufzählung erfassten Angelegenheiten. Die Abgrenzung zwischen den beratungs­hil­fe­fähigen Angelegenheiten des Sozialrechts und den nicht beratungs­hil­fe­fähigen Angelegenheiten des Steuerrechts richtet sich nach dem eröffneten Rechtsweg. In Kinder­geld­an­ge­le­gen­heiten führt dies dazu, dass keine Beratungshilfe gewährt werden kann, soweit es - wie in der großen Mehrzahl der Fälle - um Kindergeld nach dem Einkom­men­steu­er­gesetz geht, weil der Rechtsweg zu den Finanzgerichten gemäß § 33 Absatz 1 Nummer 1 FGO eröffnet ist. Demgegenüber kann in Angelegenheiten des Kindergeldes nach dem Bundes­kin­der­geld­gesetz, wie auch sonst in sozia­l­recht­lichen Angelegenheiten, grundsätzlich Beratungshilfe bewilligt werden. Für diese Ungleich­be­handlung gibt es jedenfalls im Verhältnis zwischen Rechtsuchenden im Bereich des Sozialrechts und jenen im Bereich des Steuerrechts und erst recht für die damit verbundene Ungleich­be­handlung zwischen Empfängern von steuer­recht­lichem und sozia­l­recht­lichem Kindergeld keinen tragfähigen sachlichen Grund.

1. Die zunächst mit der Annahme eines geringen Beratungs­bedarfs und guter anderweitiger Beratungs­mög­lich­keiten in Angelegenheiten des Arbeitsrechts, des Sozialrechts und des Steuerrechts begründete Konzeption des Gesetzgebers zur Begrenzung des sachlichen Anwen­dungs­be­reichs des Beratungs­hil­fe­ge­setzes hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des Beratungs­hil­fe­ge­setzes und anderer Gesetze vom 14. September 1994 aufgegeben, indem er durch § 2 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 BerHG die Beratungshilfe auch auf Angelegenheiten "des Sozialrechts" erstreckt hat. Die anderweitigen Beratungs­mög­lich­keiten in sozia­l­recht­lichen Angelegenheiten bleiben jedenfalls nicht hinter denjenigen in steuer­recht­lichen Angelegenheiten zurück.

2. Die festgestellte Ungleich­be­handlung zu Lasten der Rechtsuchenden im Steuerrecht kann auch nicht mit der gelegentlich vorgebrachten Erwägung sachlich gerechtfertigt werden, Rechtsberatung auf dem Gebiet des Steuer- und Abgabenrechts zu günstigen Bedingungen erhalten zu können, sei für Bürger mit geringem Einkommen kein vordringliches Problem. Steuer­rechtliche Zahlungs­pflichten können auch Bedürftige im Sinne des Beratungs­hil­fe­rechts erfassen, gerade auch in Angelegenheiten des Kindergeldes, das unabhängig vom zu versteuernden Einkommen gewährt wird.

3. Die Ausklammerung des Steuerrechts im Allgemeinen und des steuer­recht­lichten Kindergeldes im Besonderen aus dem sachlichen Anwen­dungs­bereich der Beratungshilfe lässt sich auch nicht unter Rückgriff auf den Gedanken einer verfas­sungs­rechtlich zulässigen Typisierung und Pauschalierung rechtfertigen. Denn auch diese müssen das vom Gesetzgeber verfolgte Regelungs­konzept folgerichtig umsetzen. Das ursprünglich beabsichtigte Regelungs­konzept, die Konzentration öffentlicher Mittel auf Bereiche, in denen das Bedürfnis nach kostengünstigem Rechtsrat besonders hervorgetreten ist, hat der Gesetzgeber aber bereits mit der Änderung des Gesetzes im Jahre 1994 aufgegeben.

IV. Dieser festgestellte Verstoß gegen den Gleichheitssatz kann nicht durch eine verfas­sungs­konforme Auslegung von § 2 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 BerHG behoben werden. Deshalb verstößt nicht nur die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung dieser Vorschrift gegen Art. 3 Absatz 1 GG, sondern die mittelbar angegriffene Bestimmung des § 2 Absatz 2 BerHG selbst ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 91/08 des BVerfG vom 30.10.2008

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