23.11.2024
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Dokument-Nr. 29380

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.08.2020

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung nach Bezeichnung als "Trulla"Abwägung von Meinungs­freiheit und Ehrschutz bei Beleidigung

Bundes­verfassungs­gerichts hat veröf­fent­lichtem Beschluss einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, die sich gegen die straf­ge­richtliche Verurteilung wegen Beleidigung einer Mitarbeiterin einer Justiz­vollzugsanstalt richtet.

Dem Verfahren liegt eine mündliche Äußerung des in Siche­rungs­ver­wahrung befindlichen Beschwer­de­führers gegenüber einer Sozia­l­a­r­beiterin einer Justiz­voll­zugs­anstalt zugrunde. Wegen Compu­ter­pro­blemen war das für Einkäufe in der Einrichtung verfügbare Taschengeld des Beschwer­de­führers zu dem Zeitpunkt, zu dem Bestellungen aufzugeben gewesen wären, noch nicht gebucht. Da der Beschwer­de­führer fürchtete, dass das Geld nicht rechtzeitig für einen Einkauf zur Verfügung stehen und er die Bestell­mög­lichkeit verpassen würde, suchte er am selben Tag in aufgeregtem Zustand das Dienstzimmer einer Sozia­l­a­r­beiterin der Justiz­voll­zugs­anstalt auf. Da er das Gefühl hatte, mit seinem Anliegen nicht zu dieser durchzudringen, wurde er wütend und bezeichnete sie im Rahmen eines Wortschwalls als "Trulla".

Wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt

Der Beschwer­de­führer wurde deshalb von den Strafgerichten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Bezeichnung als "Trulla" habe grundsätzlich ehrverletzenden Charakter, weil das Wort "Trulla" im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet werde, um abwertend über weibliche Personen zu sprechen. In der konkreten Situation sei der Begriff auch nicht neckisch gemeint und ohne beleidigenden Charakter gewesen.

Abwägungs­er­for­dernis bei Verurteilungen für Beleidigung

Das BVerfG greift mit dieser Entscheidung die jüngste zusam­men­fassende Klarstellung der verfas­sungs­ge­richt­lichen Maßstäbe im Fall von Belei­di­gungs­ver­ur­tei­lungen auf. Sie bekräftigt, dass eine strafrechtliche Verurteilung nach §§ 185 f., 193 StGB wegen ehrschmälernder Äußerungen in aller Regel eine Abwägung der wider­strei­tenden grund­recht­lichen Interessen in den konkreten Umständen des Falles erfordert. Der Umstand allein, dass eine Äußerung die betroffene Person in ihrer Ehre herabsetzt, genügt für eine Strafbarkeit nicht, sondern begründet gerade erst das Abwägungs­er­for­dernis. Voraussetzung einer solchen Abwägung ist, dass die durch die Verurteilung berührten Meinungs­frei­heits­in­teressen überhaupt gerichtlich erkannt und erwogen werden. Dem genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.

Verurteilung nur bei Überwiegen des Ehrschutzes

Die angegriffenen Entscheidungen genügen den Anforderungen des Grundrechts auf Meinungsfreiheit an strafrechtliche Verurteilungen wegen ehrher­ab­set­zender Äußerungen nicht. Da Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG jedem das Recht gibt, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, auch wenn dies in polemischer oder verletzender Weise geschieht, greifen strafrechtliche Verurteilungen wegen Beleidigung (§ 185 StGB) in das Grundrecht der Meinungs­freiheit ein. Die Anwendung dieser Strafnorm erfordert daher eine der Meinungs­freiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung und darauf aufbauend im Normalfall eine abwägende Gewichtung der Beein­träch­ti­gungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungs­freiheit auf der anderen Seite drohen. Hierfür bedarf es einer umfassenden Ausein­an­der­setzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung fällt. Eine ehrbe­ein­träch­tigende Äußerung ist daher nur dann eine tatbe­stands­mäßige und rechtswidrige (§ 193 StGB) Beleidigung, wenn das Gewicht der persönlichen Ehre in der konkreten Situation die Meinungs­freiheit des Äußernden überwiegt. In aller Regel setzt eine Verurteilung daher voraus, dass das für die Zulässigkeit einer Äußerung streitende Meinungs­frei­heits­in­teresse überhaupt gerichtlich erkannt und erwogen wird. Ein kränkender Äußerungsinhalt als solcher begründet noch kein Überwiegen des Ehrschutzes, sondern ist gerade der Grund dafür, in eine Grund­rechts­ab­wägung einzutreten.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht prüft nur Einbeziehung der Meinungs­freiheit in die Inter­es­se­n­ab­wägung

Das Ergebnis der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung ist dabei verfas­sungs­rechtlich nicht vorgegeben. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht prüft lediglich, ob die Fachgerichte Bedeutung und Tragweite der durch die strafrechtliche Sanktion betroffenen Meinungs­freiheit ausreichend berücksichtigt und innerhalb des ihnen zustehenden Wertungsrahmens die für den Fall erheblichen Abwägungs­ge­sichts­punkte identifiziert und in die Abwägung eingestellt haben. Zu den zu berück­sich­ti­genden Umständen können insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören.

Abwägung in Grenzfällen empfohlen

Eine solche Abwägung kann zwar im Einzelfall entbehrlich sein, wenn herabsetzende Äußerungen die Menschenwürde einer konkreten Person antasten oder sich als Formal­be­lei­digung oder Schmähung darstellen. Die Kammer hat aber noch einmal unter Verweis auf ihre Entscheidungen aus Mai 2020 deutlich gemacht, dass es sich dabei um Ausnahmefälle handelt, die an strenge Voraussetzungen geknüpft sind. Gerade in den vielfach nicht eindeutig gelagerten Grenzfällen biete es sich für die Gerichte an, jedenfalls hilfsweise eine Abwägung zwischen der Meinungs­freiheit und dem Schutz der Persönlichkeit vorzunehmen.

Abwägung wurde nicht durchgeführt

Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Im vorliegenden Verfahren haben die Strafgerichte die Meinungs­freiheit gar nicht erst als einschlägig erkannt und erwogen. Entsprechend haben sie eine Abwägung der gegenläufigen Ehrschutz- und Meinungs­frei­heits­in­teressen unter Berück­sich­tigung der konkreten Umstände nicht vorgenommen. Vielmehr wird der beleidigende Charakter der inkriminierten Äußerung unmittelbar aus deren bewusst herabsetzendem und kränkendem Gehalt gefolgert. Eine Einordnung als Schmähkritik, die eine Abwägung entbehrlich machen könnte, wird angedeutet, aber nicht substantiell begründet. Da die bestrafte Äußerung spontan und mündlich im Rahmen hitziger Ausein­an­der­set­zungen fiel und eine Begebenheit betraf, die in den dienstlichen Bereich der Betroffenen fiel, ist eine solche Einordnung auch der Sache nach fast ausgeschlossen. Sie ist zudem Ausdruck einer - wenngleich nicht vollständig gelungenen - emotionalen Verarbeitung der als unmittelbar belastend wahrgenommenen Situation. Diese Gesichtspunkte und der Umstand, dass der Beschwer­de­führer in besonderer Weise staatlicher Machtentfaltung ausgesetzt war, dürften im Rahmen der neuerlichen fachge­richt­lichen Abwägungs­ent­scheidung zu berücksichtigen sein.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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