14.11.2024
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Dokument-Nr. 1556

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Bundesverfassungsgericht Beschluss06.12.2005

Zum Verbot der Vollstreckung unanfechtbarer Entscheidungen, die auf einer vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht für verfas­sungs­widrig erklärten Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe beruhenDie Sitten­wid­rigkeit einer Bürgschaft hindert die Vollstreckung älterer Entscheidungen

Die Vollstreckung gegen einen rechtskräftig zur Zahlung verurteilten Schuldner ist verfas­sungs­widrig, wenn das zu Grunde liegende Urteil auf der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe beruht, die vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht wie im Fall der Bürgschaft­s­ent­scheidung vom 19. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 214) für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Dies entschied der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts. Damit hatte die Verfas­sungs­be­schwerde einer vermögenslosen Bürgin, die sich gegen die Zwangs­voll­streckung in ihr Vermögen wandte, Erfolg.

Am 19. Oktober 1993 entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht, dass die Zivilgerichte verpflichtet sind, bei der Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes der Sitten­wid­rigkeit im Sinne des § 138 BGB die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie zu beachten. Der damalige Fall betraf eine 21-jährige, vermögenslose Bürgin, die gegenüber einer Sparkasse für die Schulden ihres Vaters eine Bürgschaft übernommen hatte. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kam zu dem Ergebnis, dass Bürgschafts­verträge, die das Ergebnis strukturell ungleicher Verhand­lungs­stärke sind, sittenwidrig sind. Für die Beurteilung, wann ein solcher Vertrag vorliegt, setzte es nähere Maßstäbe.

Die Beschwer­de­führerin des vorliegenden Verfahrens, Hausfrau und Mutter zweier Kinder, hatte eine Bürgschaft für ihren Ehemann in Höhe von 200.000 DM übernommen. Sie wurde 1992 rechtskräftig zur Zahlung von 70.000 DM verurteilt. Als die Bank bei der inzwischen geschiedenen Frau vollstrecken wollte, berief sich diese auf die inzwischen aufgrund der Bürgschaft­s­ent­scheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts eingetretene Änderung der Rechtsprechung. Danach wäre der Bürgschafts­vertrag nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig gewesen. Ihre Klage wurde trotzdem in letzter Instanz vom Bundes­ge­richtshof abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde hatte Erfolg. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob das Urteil des Bundes­ge­richtshofs auf und verwies die Sache an ihn zur erneuten Entscheidung zurück.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

§ 79 Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­gesetz (BVerfGG) regelt die Folgen von Entscheidungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, durch die eine Rechtsnorm für verfas­sungs­widrig erklärt wird, auf deren Grundlage nicht mehr anfechtbare Entscheidungen ergangen sind. Es gilt gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG der Grundsatz, dass nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, in ihrer Existenz nicht mehr in Frage gestellt werden. Doch gilt für sie, soweit aus ihnen noch nicht vollstreckt worden ist, das Verbot der Vollstreckung. Diese Regelung findet entsprechende Anwendung, wenn das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nicht auf Nichtigkeit einer Norm erkannt, sondern sich darauf beschränkt hat, deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festzustellen.

§ 79 Abs. 2 BVerfGG ist aber auch dann entsprechend anzuwenden, wenn das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nicht die Norm selbst, sondern eine bestimmte Ausle­gungs­va­riante der Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat. Auf diese Weise kann ein inhaltlicher Widerspruch zu § 79 Abs. 1 BVerfGG vermieden werden. Diese Norm, die für das Strafrecht einen zusätzlichen Wieder­auf­nah­megrund enthält, bezieht auch den Fall der verfas­sungs­widrigen Auslegung neben der Nichtig- und der Unver­ein­ba­r­e­r­klärung in ihren Anwen­dungs­bereich ein. (Insoweit erging die Entscheidung mit 7 zu 1 Stimmen).

Entsprechende Anwendung findet § 79 Abs. 2 BVerfGG aber auch auf nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer Auslegung und Anwendung unbestimmter Geset­zes­be­griffe beruhen, die vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Dies gilt allerdings nur, wenn das Bundes­ver­fas­sungs­gericht, wie in der Bürgschaft­s­ent­scheidung vom 19. Oktober 1993, für die Auslegung des bürgerlichen Rechts über den Einzelfall hinausgehende Maßstäbe setzt, an welche die Zivilgerichte bei ihrer künftigen Rechtsprechung in gleich gelagerten Fällen gebunden sind. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat in dieser Entscheidung den Begriffen „gute Sitten“, „Verkehrssitte“ sowie „Treu und Glauben“ in den §§ 138 und § 242 BGB mit Bezug auf Bürgschafts­verträge auch für die Rechtsanwendung in anderen Fällen reproduzierbare – und für die Zivilgerichte verbindliche – Konturen gegeben. Dies hat dazu geführt, dass im Rahmen der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB rechtssatzmäßig typisierbare Fallgruppen gebildet worden sind, die der weiteren Rechtsanwendung zu Grunde gelegt werden können. Dies unterscheidet sich, auch wenn die abschließende Festlegung und Normausfüllung Sache der Zivilgerichte bleibt, hinsichtlich des Grund­rechts­schutzes nicht von der verfas­sungs­kon­formen Auslegung einer Rechts­vor­schrift im herkömmlichen Sinne. Im Lichte des allgemeinen Gleich­heits­satzes ist es deshalb verfas­sungs­rechtlich geboten, auch den Fall der die Ausstrah­lungs­wirkung der Grundrechte sichernden Auslegung von zivil­recht­lichen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen in den Anwen­dungs­bereich des § 79 Abs. 2 BVerfGG einzubeziehen.

Der analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG steht auch nicht entgegen, dass das zum Nachteil der Beschwer­de­führerin ergangene Urteil im Jahre 1992 mit der Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs in Einklang stand. Die von § 79 Abs. 2 BVerfGG eröffnete Möglichkeit der Vollstre­ckungs­ab­wehrklage setzt gerade voraus, dass die Einwendungen des Vollstre­ckungs­schuldners erst später entstanden sind und vor Erlass des Urteils noch nicht geltend gemacht werden konnten. (Insoweit erging die Entscheidung mit 5 zu 3 Stimmen).

Sondervotum der Richterin Haas:

Nach Auffassung der Richterin Haas ist die angegriffene Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Eine verfas­sungs­rechtliche Pflicht zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG bestehe im vorliegenden Fall nicht. Für die Analogie fehle es an der erforderlichen planwidrigen Gesetzeslücke. Der Senat bleibe die methodologisch erforderliche positive Begründung für die von ihm angenommene planwidrige Gesetzeslücke schuldig. Den Ausführungen des Senats fehle es an einem Bezug zur Gesamt­rechts­ordnung. Die Erwägungen der Senatsmehrheit zur der von ihm empfundenen Ungereimtheit der Norm vermöchten daher eine planwidrige Gesetzeslücke methodologisch nicht zu begründen. Darüber hinaus fehle es aber auch an der für eine Analogie erforderlichen Ähnlichkeit der zu vergleichenden Tatbestände. Die Nichti­g­er­klärung eines Gesetzes sei nicht vergleichbar mit dem Fall der vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht erklärten Verfas­sungs­wid­rigkeit einer Ausle­gungs­va­riante einer Norm. Der Gesetzgeber habe die Rechtsfolgen deshalb auch in unter­schied­licher Weise in § 79 BVerfGG geregelt und auch regeln dürfen.

Erst recht bestehe keine verfas­sungs­rechtliche Pflicht zur (doppelten) analogen Anwendung des § 79 Absatz 2 BVerfGG auf Entscheidungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, mit denen die Ausstrah­lungs­wirkung der Grundrechte auf das einfache Recht durchgesetzt werde. Die Senatsmehrheit verkenne insoweit schon die Unterschiede zwischen einer verfas­sungs­kon­formen Auslegung durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht und Entscheidungen, in denen lediglich die Ausstrah­lungs­wirkung der Grundrechte maßgeblich sei. Darüber hinaus aber habe das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in seiner Bürgschaft­s­ent­scheidung (BVerfGE 89, 214ff) nur Minimal­standards für die Berück­sich­tigung der Ausstrah­lungs­wirkung auf die Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB gesetzt, keineswegs aber eine Auslegung der §§ 138, 242 BGB als verfas­sungs­rechtlich geboten vorgegeben. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht habe damit nur einen Anstoß zu einer näheren, verfas­sungs­rechtlich nicht im Einzelnen vorgezeichneten Konkretisierung durch die Rechtsprechung der Fachgerichte gegeben. Die Bildung normgleich typisierbarer Fallgruppen sei erst durch die Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs geleistet worden.

Quelle: ra-online Redaktion, Pressemitteilung Nr. 129/2005 vom 23. Dezember 2005

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