24.11.2024
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Dokument-Nr. 5683

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Bundesverfassungsgericht Urteil03.04.2001

BVerfG: Eltern müssen bei den Beiträgen zur Pflege­ver­si­cherung besser gestellt werdenGesetzgeber muss neue Regelung schaffen

Die beitrags­recht­lichen Vorschriften der Pflege­ver­si­cherung, nach denen Eltern und Kinderlose gleichermaßen mit dem bundes­ein­heit­lichen Beitragssatz von 1,7 % belastet werden, sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Es hat dem Gesetzgeber aufgegeben, längstens bis zum 31. Dezember 2004 eine Regelung zu schaffen, welche die Kinder­er­zie­hungs­leistung in der umlage­fi­nan­zierten sozialen Pflege­ver­si­cherung bei der Beitrags­be­messung berücksichtigt.

Der Bf, ein verheirateter Vater von zehn Kindern, hat sich dagegen gewandt, dass Betreuung und Erziehung von Kindern bei der Bemessung des Beitrags zur sozialen Pflege­ver­si­cherung nicht berücksichtigt werden. Dies verletze insbesondere Art. 3 und 6 GG sowie das Rechts- und Sozial­staats­prinzip.

Nach dem Urteil ist es mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflege­ver­si­cherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit einem gleich hohen Pflege­ver­si­che­rungs­beitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Die entsprechenden Regelungen des SGB XI (§ 54 Abs. 1 und 2, § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, § 57 SGB XI) sind mit dem GG nicht vereinbar. Sie können bis zu einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 2004, weiter angewendet werden.

1. Der Senat stellt zunächst klar, dass die Pflicht zur Förderung der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht bereits dadurch verletzt wird, dass überhaupt Beiträge zur sozialen Pflege­ver­si­cherung von Eltern, die Kinder betreuen und erziehen, verlangt werden. Zwar werden Familien von finanziellen Belastungen, die der Staat seinen Bürgern auferlegt, regelmäßig stärker betroffen als Kinderlose. Sie haben den Unter­halts­an­spruch ihrer Kinder zu finanzieren, können jedoch andererseits durch die Kinderbetreuung nicht in gleichem Umfang erwerbstätig sein wie Kinderlose oder müssen die Fremdbetreuung ihrer Kinder bezahlen. Aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt aber nicht, dass der Staat jede zusätzliche finanzielle Belastung von Familien vermeiden muss. Es ist daher nicht verfas­sungs­widrig, dass der Erzieler des Famili­en­ein­kommens beitrags­pflichtig ist; der Staat muss diese Beitragslast auch nicht ausgleichen. Ob die staatliche Famili­en­för­derung offensichtlich unangemessen ist und dem Förderungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht mehr genügt, ist eine Frage der Gesamtabwägung. Art. 6 i.V. m. dem Sozial­staatsgebot gibt lediglich eine allgemeine Pflicht zum Famili­en­las­te­n­aus­gleich vor. Es liegt innerhalb des Gestal­tungs­spielraums des Gesetzgebers, wie er dieser Pflicht nachkommt. Mit einer Regelung, nach der auch Familien Beiträge zur sozialen Pflege­ver­si­cherung zahlen müssen, sind die Grenzen des Gestal­tungs­spielraums nicht überschritten.

2. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG lässt sich auf der Leistungsseite der sozialen Pflege­ver­si­cherung ebenfalls nicht feststellen. Kinderlose erhalten im Durchschnitt nicht mehr Leistungen aus der sozialen Pflege­ver­si­cherung als Eltern.

Der Senat setzt sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit der Frage auseinander, ob der Aufwand der Pflege­ver­si­cherung bei Pflege­be­dürftigen, die Kinder erzogen haben, geringer ist als bei Kinderlosen. Unterschiede sind insofern bei stationärer Pflege nicht nachweisbar. Es liegen keine Daten vor, die dafür sprechen, dass Kinderlose häufiger stationäre Pflege in Anspruch nehmen als Pflege­be­dürftige mit Kindern.

Allerdings bestehen bei der ambulanten Pflege Unterschiede. Die Gesamtausgaben für kinderlose Pflege­be­dürftige ab 60 liegen rund 10 % höher als die Ausgaben für die gleiche Altersgruppe mit Kindern. Dies kann darin begründet sein, dass Pflege­be­dürftige für pflegende Töchter und Schwie­ger­töchter nur das niedrigere Pflegegeld nach der Pflege­ver­si­cherung beziehen, während Kinderlose häufiger die Sachleistungen durch professionelle Pflegedienste in Anspruch nehmen. Insgesamt sind die Mehrausgaben für Kinderlose in den höheren Altersgruppen jedoch maßvoll. Es ist gerade Ausdruck des solidarischen Ausgleichs durch die Pflege­ver­si­cherung, Pflege­leis­tungen für solche Menschen zur Verfügung zu stellen, die nicht auf pflegende Familien­an­ge­hörige zurückgreifen können. Außerdem kann für die Zukunft nicht zuverlässig angenommen werden, dass Pflege­be­dürftige von ihren Kindern gepflegt werden.

3. Der Erste Senat stellt jedoch eine verfas­sungs­widrige Benachteiligung von Eltern auf der Beitragsseite der sozialen Pflege­ver­si­cherung fest. Er geht dabei davon aus, dass das Risiko, pflegebedürftig zu werden, jenseits der 60 deutlich und jenseits der 80 sprunghaft ansteigt. Pflege­be­dürftige sind deshalb auf die Pflege­ver­si­che­rungs­beiträge der nachwachsenden Generation angewiesen. Auf Grund dieses Umlagesystems profitieren die Kinderlosen von der Erzie­hungs­leistung der Eltern. Beide sind darauf angewiesen, dass genug Kinder nachwachsen, die in der Zukunft Beiträge zahlen und ihre Pflege finanzieren. Dies ist unabhängig davon, ob sie selbst Kinder erzogen und damit zum Erhalt des Beitrags­zah­ler­be­standes beigetragen haben oder nicht. Kinderlosen, die lediglich Beiträge gezahlt, zum Erhalt des Beitrags­zah­ler­be­standes aber nichts beigetragen haben, erwächst daher ein Vorteil. Zwar finanzieren sie mit ihren Beiträgen auch die Abdeckung des Pflegerisikos der beitragsfrei versicherten Ehegatten und Kinder mit. Insgesamt wird der Vorteil, den Kinderlose durch das Aufziehen der nächsten Generation erlangen, durch die Umlage für die Famili­en­ver­si­cherten aber nicht aufgezehrt.

Dieser system­s­pe­zi­fische Vorteil für Kinderlose in der sozialen Pflege­ver­si­cherung unterscheidet sich von dem Wohl, das aus der Erziehung und Betreuung von Kindern für die Gesellschaft im Allgemeinen erwächst. Kindererziehung liegt im gesell­schaft­lichen Interesse. Das allein gebietet noch nicht, sie in einem bestimmten sozialen Leistungssystem von Verfassungs wegen zu berücksichtigen. Wenn aber das Leistungssystem ein alter­ss­pe­zi­fisches Risiko abdeckt und so finanziert wird, dass die jeweils erwerbstätige Generation die Kosten für vorangegangene Generationen mittragen muss, ist für das System nicht nur die Beitragszahlung, sondern auch die Kindererziehung konstitutiv. Wird die zweite Komponente nicht mehr regelmäßig von allen geleistet, werden Eltern spezifisch in diesem System belastet, was deshalb auch innerhalb des Systems ausgeglichen werden muss.

Allerdings kann der Gesetzgeber die Benachteiligung von Eltern solange vernachlässigen, wie eine deutliche Mehrheit der Versicherten Kinder bekommt und betreut. Dies folgt aus dem Recht des Gesetzgebers zur Generalisierung. Trägt die große Mehrheit der Beitragszahler daneben durch Erziehung und Betreuung von Kindern zum System bei, ist das System im Großen und Ganzen im generativen Gleichgewicht. Solange liegt es auch innerhalb des gesetz­ge­be­rischen Gestal­tungs­spielraums, die Beiträge nicht danach zu differenzieren, ob Kinder erzogen werden oder nicht. Die Einführung des SGB XI im Jahr 1994 ohne Kinder­er­zie­hungs­kom­ponente überschreitet jedoch den gesetz­ge­be­rischen Gestal­tungs­spielraum. Denn schon 1994 war bekannt, dass die Zahl der Kinderlosen in der Gesellschaft drastisch ansteigt. Der Gesetzgeber konnte nicht davon ausgehen, dass die große Mehrheit der Versicherten sowohl Beiträge zahlen als auch Kinder erziehen würde. Der Senat setzt sich mit den von den Sachver­ständigen vorgelegten Statistiken über die Bevöl­ke­rungs­ent­wicklung auseinander, die ein deutliches Absinken der Bevölkerung und eine Veränderung der Altersstruktur prognostizieren. Bereits 1989 ging das Statistische Bundesamt davon aus, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2030 um 10 % zurückgehen und ein Drittel der Bewohner 60 Jahre und älter sein würde. Es war abzusehen, dass die Relation zwischen jüngeren Beitragszahlern und älteren Pflege­be­dürftigen sich stetig verschlechtert. Andererseits ist nicht zu erwarten, dass das Pflegerisiko älterer Menschen wesentlich sinken wird.

Insgesamt müssen weniger Beitragszahler die Pflege der älteren Generation finanzieren und die Kosten der Kindererziehung tragen. Ein gleicher Versi­che­rungs­beitrag führt damit zu erkennbarem Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag der Eltern (Kindererziehung und Geldbeitrag) und dem Geldbeitrag der Kinderlosen. Die hieraus resultierende Benachteiligung von Eltern ist im Beitragsrecht auszugleichen.

4. Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfas­sungs­wid­rigkeit der bestehenden Regelung offen stehen, sind die einschlägigen Normen nur als unvereinbar mit dem GG zu erklären. Sie können ausnahmsweise bis zum 31. Dezember 2004 weiter angewendet werden. Dies resultiert aus dem Gesichtspunkt der Rechts­si­cherheit und dem Umstand, dass der Gesetzgeber prüfen muss, welche Wege einer verfas­sungs­gemäßen Gestaltung der Pflege­ver­si­cherung in Betracht kommen. Bei der Bemessung der Frist hat der Senat berücksichtigt, dass die Bedeutung der Entscheidung auch für andere Zweige der Sozia­l­ver­si­cherung zu prüfen ist.

Wie der Gesetzgeber die erforderliche relative Entlastung der kinder­er­zie­henden Beitragszahler vornimmt, kann er im Rahmen seines Spielraums selbst entscheiden. Sie muss aber den Eltern während der Zeit zugute kommen, in der sie Kinder betreuen und erziehen. Der Ausgleich kann nicht durch unter­schiedliche Leistungen im Falle der Pflege­be­dürf­tigkeit erfolgen. Es ist geboten, bereits die Unter­halts­pflicht gegenüber einem Kind zu berücksichtigen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des BVerfG vom 03.04.2001

der Leitsatz

Es ist mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflege­ver­si­cherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funkti­o­ns­fä­higkeit eines umlage­fi­nan­zierten Sozia­l­ver­si­che­rungs­systems leisten, mit einem gleich hohen Pflege­ver­si­che­rungs­beitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.

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