18.10.2024
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Dokument-Nr. 24528

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Urteil11.07.2017Bundesverfassungsgericht1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16
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Bundesverfassungsgericht Urteil11.07.2017

Tarifein­heits­gesetz weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbarBelange einzelner Berufsgruppen oder Branchen dürfen bei Verdrängung bestehender Tarifverträge jedoch nicht einseitig vernachlässigt werden

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Regelungen des Tarif­einheits­gesetzes weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Auslegung und Handhabung des Gesetzes muss allerdings der in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützten Tarifautonomie Rechnung tragen; über im Einzelnen noch offene Fragen haben die Fachgerichte zu entscheiden. Unvereinbar ist das Gesetz mit der Verfassung nur insoweit, als Vorkehrungen dagegen fehlen, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber muss insofern Abhilfe schaffen. Bis zu einer Neuregelung darf ein Tarifvertrag im Fall einer Kollision im Betrieb nur verdrängt werden, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheits­gewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheits­gewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Das Gesetz bleibt mit dieser Maßgabe ansonsten weiterhin anwendbar. Die Neuregelung ist bis zum 31. Dezember 2018 zu treffen.

Das Tarifein­heits­gesetz regelt Konflikte im Zusammenhang mit der Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb. Es ordnet an, dass im Fall der Kollision der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft verdrängt wird, die weniger Mitglieder im Betrieb hat, und sieht ein gerichtliches Beschluss­ver­fahren zur Feststellung dieser Mehrheit vor. Der Arbeitgeber muss die Aufnahme von Tarif­ver­hand­lungen den anderen tarif­zu­ständigen Gewerkschaften bekannt geben und diese mit ihren tarif­po­li­tischen Forderungen anhören. Wird ihr Tarifvertrag im Betrieb verdrängt, hat die Gewerkschaft einen Anspruch auf Nachzeichnung des verdrängenden Tarifvertrags.

Beschwer­de­führer rügen Verletzung der Koali­ti­o­ns­freiheit

Mit den nun entschiedenen Verfas­sungs­be­schwerden wenden sich Berufs­grup­pen­ge­werk­schaften, Branchen­ge­werk­schaften, ein Spitzenverband sowie ein Gewerk­schafts­mitglied unmittelbar gegen das Tarifein­heits­gesetz und rügen vornehmlich eine Verletzung der Koali­ti­o­ns­freiheit (Art. 9 Abs. 3 GG).

Grundrecht vermittelt kein Recht auf tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüs­sel­po­si­tionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht verwies in seiner Entscheidung darauf, dass das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG in erster Linie ein Freiheitsrecht ist. Es schützt alle koali­ti­o­nss­pe­zi­fischen Verhal­tens­weisen, insbesondere die Tarifautonomie und Arbeits­kampf­maß­nahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf absolute tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüs­sel­po­si­tionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen. Art. 9 Abs. 3 GG enthält auch keine Bestands­ga­rantie für einzelne Koalitionen. Allerdings wird die Koali­ti­o­ns­freiheit ausdrücklich für jedermann und alle Berufe garantiert. Daher wären staatliche Maßnahmen mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar, die gerade darauf zielten, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen heraus zu drängen oder bestimmten Gewerk­schaft­stypen, wie etwa Berufs­ge­werk­schaften, generell die Existenz­grundlage zu entziehen. Darüber hinaus ist die Selbst­be­stimmung über die innere Ordnung ein wesentlicher Teil der Koali­ti­o­ns­freiheit. Das umfasst die Entscheidung über das eigene Profil auch durch Abgrenzung nach Branchen, Fachbereichen oder Berufsgruppen; bestimmte Vorgaben hierzu wären unzulässig.

Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall stellt Eingriff in Koali­ti­o­ns­freiheit dar

Die Regelung zur Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall greift in die Koali­ti­o­ns­freiheit ein. Sie kann außerdem grund­rechts­be­ein­träch­tigende Vorwirkungen entfalten. Denn sowohl die drohende Verdrängung des eigenen Tarifvertrags als auch die gerichtliche Feststellung, in einem Betrieb in der Minderheit zu sein, können eine Gewerkschaft bei der Mitglie­d­er­werbung und der Mobilisierung ihrer Mitglieder für Arbeits­kampf­maß­nahmen schwächen und Entscheidungen zur tarif­po­li­tischen Ausrichtung und Strategie beeinflussen. Beeinflusst wird auch die grundrechtlich geschützte Entscheidung, ob und inwieweit mit anderen Gewerkschaften kooperiert wird und welches Profil sich eine Gewerkschaft gibt.

Dagegen wird das in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Recht, mit den Mitteln des Arbeitskampfes auf den jeweiligen Gegenspieler Druck und Gegendruck ausüben zu können, um zu einem Tarifabschluss zu gelangen, durch das Tarifein­heits­gesetz nicht angetastet. Die Unsicherheit im Vorfeld eines Tarif­ab­schlusses über das Risiko, dass ein Tarifvertrag verdrängt werden kann, begründet weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheits­ver­hält­nissen ein Haftungsrisiko einer Gewerkschaft bei Arbeits­kampf­maß­nahmen. Dies haben die Arbeitsgerichte gegebenenfalls in verfas­sungs­kon­former Anwendung der Haftungsregeln sicherzustellen.

Art. 9 Abs. 3 GG berechtigt den Gesetzgeber, das Verhältnis der sich gegenüber stehenden Tarif­ver­trags­parteien zu regeln, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarif­ver­hand­lungen einen fairen Ausgleich ermöglichen und damit angemessene Wirtschafts- und Arbeits­be­din­gungen hervorbringen können. Zur Funkti­o­ns­fä­higkeit der Tarifautonomie gehört aber nicht nur die strukturelle Parität zwischen Arbeitgeber- und Arbeit­neh­merseite. Zu ihr gehören auch die Bedingungen der Aushandlung von Tarifverträgen, welche die Entfaltung der Koali­ti­o­ns­freiheit dort sichern, wo auf Seiten der Gewerkschaften oder der Arbeitgeber mehrere Akteure untereinander konkurrieren. Auch hier verfügt der Gesetzgeber über einen weiten Handlungs­spielraum. Er ist nicht gehindert, Rahmen­be­din­gungen zu verändern, so aus Gründen des Gemeinwohls, um gestörte Paritäten wieder herzustellen oder um einen fairen Ausgleich auf einer Seite zu sichern.

Tarifein­heits­gesetz soll Tarif­kol­li­sionen vermeiden

Die Regelungen des Tarifein­heits­ge­setzes sind in der verfas­sungs­rechtlich gebotenen Auslegung und Handhabung weitgehend mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar. Zweck des Gesetzes ist es, Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeit­neh­merseite in Tarif­ver­hand­lungen zu setzen und so Tarif­kol­li­sionen zu vermeiden. Damit verfolgt der Gesetzgeber das legitime Ziel, zur Sicherung der strukturellen Voraussetzungen von Tarif­ver­hand­lungen das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander zu regeln. Die angegriffenen Regelungen sind geeignet, dieses Ziel zu erreichen, auch wenn nicht gewiss ist, dass der gewollte Effekt tatsächlich eintritt. Es bestehen auch keine verfas­sungs­rechtlich durchgreifenden Bedenken gegen ihre Erfor­der­lichkeit. Jedenfalls steht kein zweifelsfrei gleich wirksames, Gewerkschaften und ihre Mitglieder aber weniger beein­träch­ti­gendes Mittel zur Verfügung, um die legitimen Ziele zu erreichen. Der Gesetzgeber hat den ihm hier zustehenden Beurteilungs- und Progno­se­spielraum nicht verletzt.

Die mit dem Tarifein­heits­gesetz verbundenen Belastungen sind in einer Gesamtabwägung überwiegend zumutbar, wenn ihnen durch eine restriktive Auslegung der Verdrän­gungs­re­gelung (§ 4 a Abs. 2 TVG), ihrer verfah­rens­recht­lichen Einbindung sowie durch eine weite Interpretation des Nachzeich­nungs­an­spruchs Schärfen genommen werden.

Das Gewicht der Beein­träch­tigung durch die Regelungen ist dadurch relativiert, dass es die Betroffenen in gewissem Maße selbst in der Hand haben, ob es zur Verdrän­gungs­wirkung kommt oder nicht. Die Verdrän­gungs­re­gelung ist tarifdispositiv; allerdings müssen dazu alle betroffenen Tarif­ver­trags­parteien vereinbaren, dass die Kollisionsnorm nicht zur Anwendung kommt.

Verdrän­gungs­wirkung im Fall der Tarifkollision im Betrieb durch gesetzliche Regelung mehrfach beschränkt

Zudem ist die Verdrän­gungs­wirkung im Fall der Tarifkollision im Betrieb schon nach der gesetzlichen Regelung mehrfach beschränkt. Darüber hinaus sind die Arbeitsgerichte gehalten, Tarifverträge im Kollisionsfall so auszulegen, dass die durch eine Verdrängung beein­träch­tigten Grund­rechts­po­si­tionen möglichst weitgehend geschont werden. Wenn und soweit es objektiv dem Willen der Tarif­ver­trags­parteien des Mehrheit­s­ta­rif­vertrags entspricht, eine Ergänzung ihrer Regelungen durch Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften zuzulassen, werden diese nicht verdrängt. Besteht Grund zu der Annahme, dass Regelungen kollidierender Tarifverträge nebeneinander bestehen sollen, findet die Verdrängung dort nicht statt.

Verdrängung eines Tarifvertrags muss zumutbar bleiben

Um unzumutbare Härten zu vermeiden, dürfen bestimmte tarif­ver­traglich garantierte Leistungen nicht verdrängt werden. Das betrifft längerfristig bedeutsame Leistungen, auf die sich Beschäftigte in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berech­tig­terweise vertrauen, wie beispielsweise Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeits­platz­ga­rantie oder zur Lebens­a­r­beitszeit. Der Gesetzgeber hat dafür keine Schutz­vor­keh­rungen getroffen. Hier müssen die Gerichte von Verfassungs wegen sicherstellen, dass die Verdrängung eines Tarifvertrags zumutbar bleibt. Lassen sich die Härten nicht in der Anwendung des für die weitere Gewährung solcher Leistungen maßgeblichen Rechts vermeiden, ist der Gesetzgeber gehalten, dies zu regeln.

Die beein­träch­tigende Wirkung wird auch durch die Auslegung der Kolli­si­ons­re­gelung gemildert, wonach die Verdrängung eines Tarifvertrags nur solange andauert, wie der verdrängende Tarifvertrag läuft und kein weiterer Tarifvertrag eine Verdrängung bewirkt. Der verdrängte Tarifvertrag lebt danach für die Zukunft wieder auf. Ob dies anders zu beurteilen ist, um ein kurzfristiges Springen zwischen verschiedenen Tarifwerken zu vermeiden, müssen die Fachgerichte entscheiden.

Die Belas­tungs­wir­kungen der Verdrängung sind durch den Anspruch auf Nachzeichnung eines anderen Tarifvertrags gemildert (§ 4 a Abs. 4 TVG). Dieser ist verfas­sungs­konform so auszulegen, dass er sich auf den gesamten verdrängenden Tarifvertrag bezieht. Der Nachzeich­nungs­an­spruch korrespondiert so zumindest mit der Reichweite der Verdrängung, kann aber auch weiter reichen.

Die Beein­träch­tigung der Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG wird auch durch Verfahrens- und Betei­li­gungs­rechte der von der Verdrängung betroffenen Gewerkschaft gemindert. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Aufnahme von Tarif­ver­hand­lungen rechtzeitig im Betrieb bekannt zu geben. Die nicht selbst verhandelnde, aber tarifzuständige Gewerkschaft hat einen Anspruch darauf, dem Arbeitgeber ihre Vorstellungen vorzutragen. Diese Verfah­ren­s­po­si­tionen sind als echte Rechtspflichten zu verstehen. Werden sie verletzt, liegen die Voraussetzungen für eine Verdrängung nicht vor.

Die Ungewissheit des Arbeitgebers über die tatsächliche Durch­set­zungskraft einer Gewerkschaft aufgrund deren Mitglie­der­stärke ist für die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Parität zwischen Gewerkschaften und Arbeit­ge­berseite von besonderer Bedeutung. Das neu geregelte Beschluss­ver­fahren nach § 2 a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG geht mit dem Risiko einher, dass es zur Offenlegung der Mitglie­der­stärke der Gewerkschaften kommt. Die Fachgerichte müssen die prozess­recht­lichen Möglichkeiten nutzen, um dies möglichst zu vermeiden. Wenn dies nicht in allen Fällen gelingt, ist das mit Blick auf das gesetz­ge­be­rische Ziel jedoch insgesamt zumutbar.

Mit Verdrängung eines Tarifvertrags verbundene Beein­träch­ti­gungen unver­hält­nismäßig

Die mit der Verdrängung eines Tarifvertrags verbundenen Beein­träch­ti­gungen sind insoweit unver­hält­nismäßig, als Schutz­vor­keh­rungen gegen eine einseitige Vernach­läs­sigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheits­ge­werk­schaft fehlen. Der Gesetzgeber hat keine Vorkehrungen getroffen, die sichern, dass in einem Betrieb die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hinreichend berücksichtigt werden. So ist nicht auszuschließen, dass auch im Fall der Nachzeichnung deren Arbeits­be­din­gungen und Interessen mangels wirksamer Vertretung in der Mehrheits­ge­werk­schaft unzumutbar übergangen werden. Der Gesetzgeber ist gehalten, hier Abhilfe zu schaffen; er hat dabei einen weiten Gestal­tungs­spielraum.

Strukturelle Rahmen­be­din­gungen der Aushandlung von Tarifverträgen von großer Bedeutung

Die teilweise Verfas­sungs­wid­rigkeit des § 4 a TVG führt nicht zu dessen Nichti­g­er­klärung, sondern nur zur Feststellung seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Die Defizite betreffen nicht den Kern der Regelung. Die strukturellen Rahmen­be­din­gungen der Aushandlung von Tarifverträgen, auf die der Gesetzgeber hier zielt, sind dagegen von großer Bedeutung. Bis zu einer Neuregelung darf die Vorschrift daher nur mit der Maßgabe angewendet werden, dass eine Verdrän­gungs­wirkung erst in Betracht kommt, wenn plausibel dargelegt werden kann, dass die Mehrheits­ge­werk­schaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.

Abweichende Meinung des Richters Paulus und der Richterin Baer

Erläuterungen
Richter Paulus und Richterin Baer sind sich mit dem Senat hinsichtlich der Anforderungen einig, die aus dem Freiheitsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG für Regelungen zur Sicherung der Tarifautonomie folgen. Sie können dem Urteil jedoch in der Bewertung des Mittels, mit dem der Gesetzgeber die Tarifautonomie stärken möchte, in der Entscheidung, das Gesetz fortgelten zu lassen, und in der Überantwortung grund­recht­licher Probleme an die Fachgerichte nicht folgen. Sie sind der Auffassung, das Ziel der Sicherung der Tarifautonomie sei legitim, aber das Mittel der Verdrängung eines abgeschlossenen Tarifvertrags sei zu scharf. Komplexe Fragen habe der Gesetzgeber zu entscheiden und nicht der Senat. Außerdem seien die weiteren im Urteil identifizierten verfas­sungs­recht­lichen Defizite des Tarifein­heits­ge­setzes entweder durch eine zwingende verfas­sungs­konforme Auslegung oder durch eine Neuregelung und damit vom Gesetzgeber zu lösen.

Wesentliche Erwägungen der abweichenden Meinung:

Der Gesetzgeber darf auf Erosionen der Tarifbindung reagieren und Regelungen in Kraft setzen, die das Freiheitsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG in verhält­nis­mäßiger Weise beschränken. Er darf aber weder auf eine Vorstellung "wider­spruchs­freier Ordnung" noch auf eine Einheits­ge­werk­schaft zielen oder Arbeitgeber vor vielfachen gewerk­schaft­lichen Forderungen zu schützen suchen.

Das Urteil beruht jedoch auf Einschätzungen der sozialen Wirklichkeit, an denen Zweifel bestehen. Weder substantiiert noch sonst belegt worden ist die These, derzeit in Tarifkollision ausgehandelte Löhne würden als ungerecht empfunden, was den Betriebsfrieden störe. Nicht zu übersehen ist auch, dass es an Kooperation zwischen Gewerkschaften aus Gründen fehlt, denen das Urteil zu wenig Bedeutung beimisst. Tarifpluralität ist Ausfluss grund­recht­licher Freiheit und insbesondere von Arbeitgebern oft gewollt, Kollisionen selten und Konflikte Teil spezifischer Entwicklungen. Es gibt seit langem klärende Verbands­ver­fahren. Nicht übersehen werden kann, dass die angegriffenen Regelungen auf einen einseitigen politischen Kompromiss zurückgehen, und der Gesetzgeber nicht nur scharf sanktioniert, sondern auch strukturell einseitig vorgeht.

Es ist fraglich, ob die angegriffenen Regelungen geeignet sind, das Ziel der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Tarif­ver­trags­systems zu erreichen. Die Wahrschein­lichkeit, dass der Gesetzgeber heftigere Konkurrenzen und Statuskämpfe in einzelnen Betrieben provoziert, erscheint hoch. Auch an der Erfor­der­lichkeit des Tarifein­heits­ge­setzes bestehen erhebliche Zweifel. Die angeführte Änderung in der Rechtsprechung des Bundes­a­r­beits­ge­richts hat nicht dazu geführt, dass die Funkti­o­ns­fä­higkeit der Tarifautonomie beeinträchtigt wurde; schon vor 2010 gab es keine durchgängige Tarifeinheit im Betrieb. Mit der Verdrängung eines Tarifvertrags nur nach einem gerichtlichen Beschluss­ver­fahren steht ein milderes, als Anreiz zur Kooperation der Tarif­ver­trags­parteien aber ebenso wirksames Mittel zur Verfügung.

Das Tarifein­heits­gesetz ist nicht nur hinsichtlich des Berufs­grup­pen­schutzes im anwendbaren Tarifvertrag grundrechtlich unzumutbar. Die Unzumutbarkeit betrifft auch die im Urteil noch ermöglichte Auslegung der Regelung als Verdrängung eines Tarifvertrags ohne arbeits­ge­richt­lichen Beschluss. Das Urteil überlässt die Handhabung der Kollisionsregel insoweit den Arbeits­ge­richten. Die Auslegung, wonach dem gerichtlichen Beschluss­ver­fahren klärende Gestal­tungs­wirkung zukommt, ist dann verfas­sungs­rechtlich zwingend. Nur wenn die Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall an ein konstitutives Beschluss­ver­fahren gebunden wird, schafft dies Rechts­si­cherheit und vermeidet unkalkulierbare und das Tarif­ver­trags­system zusätzlich belastende Unsicherheiten.

Das Urteil geht zu Recht davon aus, dass es mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar wäre, wenn die Kolli­si­ons­re­gelung auch zum Verlust langfristig angelegter, die Lebensplanung der Beschäftigten berührender Ansprüche aus einem Tarifvertrag führen würde. Das hat der Gesetzgeber nicht berücksichtigt. Es ist nicht an den Gerichten, diese Lücke zu füllen. Wo grundrechtlich klar geschützte Belange einfach ignoriert worden sind, liegt es in der Verantwortung des Gesetzgebers, sich für eine von vielen denkbaren Regelungen zu entscheiden.

Hinter der Annahme der Senatsmehrheit, die Nachzeichnung eines Tarifvertrags einer anderen Gewerkschaft halte den Verlust des eigenen Tarifvertrags in Grenzen, steht eine gefährliche Tendenz, die Interessen aller Arbeit­neh­me­rinnen und Arbeitnehmer als einheitlich aufzufassen. Die Vorstellung, es komme nicht auf den konkret ausgehandelten Vertrag an, solange überhaupt eine Tarifbindung bestehe, privilegiert in der Sache die großen Branchen­ge­werk­schaften. Dies widerspricht dem Grundgedanken des Art. 9 Abs. 3 GG, der auf das selbstbestimmte tarifpolitische Engagement von Angehörigen jedweden Berufes setzt.

Das Urteil eröffnet die Möglichkeit, dass im gerichtlichen Beschluss­ver­fahren die Mehrheits­ver­hältnisse der Gewerkschaften in einem Betrieb offengelegt werden. Solange der Gesetzgeber keine Vorkehrungen trifft, die damit einhergehende Verschiebung der Kampfparität zu verhindern, ist auch dies nicht zumutbar.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ist sich zwar einig, dass eine Regelung, die keinerlei Rücksicht auf die spezifischen Interessen und Bedürfnisse derjenigen nimmt, deren Tarifverträge in einem Betrieb verdrängt werden, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dann kann jedoch die insoweit verfas­sungs­widrige Norm nicht mehr fortgelten. Die Nichtigkeit als Regelfolge ist zwar hart, aber eindeutig normiert; die anerkannten Gründe für die ausnahmsweise Fortgeltung verfas­sungs­widriger Normen liegen nicht vor. Daher hätte das Tarifein­heits­gesetz jedenfalls insoweit für verfas­sungs­widrig und nichtig erklärt werden müssen; § 4 a Abs. 2 Satz 2 TVG wäre bis zu einer Neuregelung unanwendbar. Wo der Gesetzgeber die Weichen für eine zumutbare Einschränkung der Koali­ti­o­ns­freiheit nicht gestellt hat, ist er selbst gefragt. Der Senat verlangt nun von den Fachgerichten die Überprüfung der sachlichen Angemessenheit von Tarifverträgen. Hingegen vertraut Art. 9 Abs. 3 GG der eigen­ver­ant­wortlich wahrgenommenen Freiheit der Tarif­ver­trags­parteien.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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