21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss25.02.2009

Erfolgreiche Verfas­sungs­be­schwerde gegen Verweigerung eines Spezi­a­l­roll­stuhls als des einzigen Fortbe­we­gungs­mittels im HaushaltVerletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes

Eine 48-jährige Beschwer­de­führerin hatte Erfolg mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde gegen sozial­ge­richtliche Beschlüsse, die es abgelehnt hatten, ihr einen speziellen Elektro­rollstuhl, der für sie die einzige Möglichkeit darstellt, sich im häuslichen Bereich ohne fremde Hilfe zu bewegen, im Wege des Eilrechts­schutzes zu bewilligen.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die angegriffenen Beschlüsse des Sozialgerichts und des Landes­so­zi­al­ge­richts auf, die wegen der noch notwendigen Ermittlungen möglicher Gefahren für die Beschwer­de­führerin beim Betrieb des Rollstuhls eine Bewilligung im Eilrechtsschutz ausgeschlossen und auf das Haupt­sa­che­ver­fahren verwiesen hatten.

Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ging von einer Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes aus, weil die Sozialgerichte das Beweisangebot der Beschwer­de­führerin, ihre Fähigkeit zur gefahrenfreien Nutzung eines entsprechend ausgerüsteten Elektro­roll­stuhls mit einem leihweise zur Verfügung gestellten Fahrzeug vorzuführen, bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hätten berücksichtigen müssen. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt

Die Beschwer­de­führerin leidet an der Krankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) mit nahezu vollständiger Lähmung der Muskulatur, wodurch sie komplett an den Rollstuhl gefesselt ist, den sie auch nicht mit eigener Muskelkraft in Bewegung setzen und steuern kann, auch nicht im häuslichen Umfeld. Im September 2007 beantragte sie bei ihrer Krankenkasse unter Vorlage einer entsprechenden Verordnung ihres behandelnden Arztes die Versorgung mit einem speziell für sie hergerichteten Elektrorollstuhl samt elektronischer Mundsteuerung. Auf der Grundlage von Gutachten, die die Fahrtaug­lichkeit der Beschwer­de­führerin für einen Elektro­rollstuhl im Straßenverkehr verneinten, lehnte die Krankenkasse die begehrte Versorgung ab. Die Beschwer­de­führerin wandte sich hiergegen an das Sozialgericht und stellte dabei klar, dass es ihr um die Bewegungs­fä­higkeit im häuslichen Umfeld gehe. Während der Abwesenheit ihres Ehemannes sei sie im häuslichen Umfeld an den Platz gebunden, wo sie "abgestellt" werde. Das Sozialgericht lehnte die beantragte Bewilligung im Wege einstweiligen Rechtsschutzes ab, weil umfangreiche medizinische Ermittlungen zur Frage einer etwaigen Selbst- oder Fremdgefährdung bei der Benutzung des Elektro­roll­stuhls erforderlich seien - derartige Gefahren müssten sicher ausgeschlossen sein, bevor die begehrte Versorgung in Betracht komme. All diese Fragen seien aber nicht im Eilrechtsschutz, sondern im Haupt­sa­che­ver­fahren zu prüfen. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das Landes­so­zi­al­gericht zurückgewiesen. Einem Beweisangebot der Beschwer­de­führerin, anhand eines leihweise überlassenen Elektro­roll­stuhls im Rahmen des Eilrechts­schutzes die sachgerechte Bedienung zu belegen, wurde dabei von den Fachgerichten nicht nachgegangen.

Gründe

Die angegriffenen sozial­ge­richt­lichen Entscheidungen stehen mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht in Einklang.

Amtser­mitt­lungs­grundsatz gilt auch im einstweiligen Verfahren bei den Sozialgerichten

Auch im Verfahren der einstweiligen sozial­ge­richt­lichen Anordnung gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, was die Möglichkeit einer Beweiserhebung einschließt. Eine Vorwegnahme der Hauptsache kann dabei jedenfalls bei drohenden schweren und unzumutbaren Nachteilen auch im Eilrechtsschutz durchaus geboten sein. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei auch die grund­recht­lichen Belange, insbesondere der Grundwert der Menschenwürde, zu berücksichtigen sind. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden.

Sozialgerichte würdigten nicht ausreichend die Hilflosigkeit der Frau und die daraus resultierende Einschränkung des Persön­lich­keits­rechts

Die Fachgerichte haben hier nicht ausreichend berücksichtigt, dass bei einem unter amyotropher Lateralsklerose leidenden Menschen mit völligem Verlust der eigenen Mobilität der Zwang zum Verharren in einer Situation der Hilflosigkeit eine schwerwiegende Einschränkung darstellt, die seine Persön­lich­keits­rechte berührt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozial­staats­prinzip ein Anspruch auf die Mindest­vor­aus­set­zungen für ein menschen­würdiges Dasein folgt. Dazu gehört auch das Interesse der Beschwer­de­führerin, im Rahmen ihrer krank­heits­bedingt sehr eingeschränkten Möglichkeiten im Wohnumfeld einen Rest an Mobilität zu erhalten.

Fahrtaug­lichkeit der Beschwer­de­führerin hätte geprüft werden müssen

Vor diesem Hintergrund durften die Fachgerichte hier auch im Wege des Eilrechts­schutzes das Angebot der Beschwer­de­führerin, ihre Fahrtaug­lichkeit an einem leihweise überlassenen Rollstuhl unter Beweis zu stellen, nicht unter Hinweis auf lediglich denkbare Gefahrenlagen beiseite schieben. Damit ließen sie das bereits im Eilrechtsschutz aktuelle und rechtlich schutzwürdige Interesse der Beschwer­de­führerin, sich einen Rest an Mobilität zu erhalten, wegen einer von ihnen selbst nicht als nachgewiesen, sondern lediglich für möglich gehaltenen Gefahr beim Betrieb des Elektro­roll­stuhls zurücktreten.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 22/2009 des Bundesverfassungsgerichts vom 12.03.2009

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