18.10.2024
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Dokument-Nr. 3229

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Beschluss13.06.2006Bundesverfassungsgericht1 BvR 1160/03
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Bundesverfassungsgericht Beschluss13.06.2006

Beschränkung des Primär­rechts­schutzes im Vergaberecht auf Auftrags­vergaben oberhalb bestimmter Schwellenwerte verfas­sungsgemäßInteresse an rascher Vergabe überwiegt

Unternehmen, die im Bieterverfahren für die Auftragsvergabe von Aufträgen unter 5 Mio. EUR unterliegen, können dagegen nicht im Wege des Primär­rechts­schutzes vorgehen. Eine entsprechende gesetzliche Regelung hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht für verfas­sungsgemäß angesehen. Verfas­sungs­rechtlich ist nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Interesse an einer raschen Verga­be­ent­scheidung diese Regelung getroffen hat. Rechtlos sind im Verga­be­ver­fahren unterhalb des Schwellenwertes unterlegene Unternehmen aber nicht. Ihnen steht der Sekun­där­rechtsweg offen. Sie können z. B. etwaige Schaden­s­er­satz­ansprüche geltend machen.

Das Vergaberecht (Gesamtheit der Normen über die Vergabe öffentlicher Aufträge durch einen Träger öffentlicher Verwaltung) teilt sich in zwei Bereiche, je nachdem, ob das Auftragsvolumen eine bestimmte Größenordnung erreicht oder nicht. Maßgeblich hierfür sind die in den EG-Verga­be­richt­linien festgesetzten Schwellenwerte.

Für Aufträge, deren Betrag den jeweils maßgeblichen Schwellenwert erreicht oder übersteigt – bei Bauaufträgen handelt es sich um ein Auftragsvolumen von 5 Mio. Euro –, enthält der vierte Teil des Gesetzes gegen Wettbe­wer­bs­be­schrän­kungen Regelungen für das Verga­be­ver­fahren (§§ 97 ff. GWB). Den am Verga­be­ver­fahren beteiligten Unternehmen wird ein subjektives Recht auf Einhaltung der Bestimmungen über das Verga­be­ver­fahren eingeräumt. Für die Durchsetzung ist ein besonderes Nachprü­fungs­ver­fahren vorgesehen. Zuständig hierfür sind die Vergabekammern des Bundes oder der Länder. Gegen deren Entscheidung ist die sofortige Beschwerde zulässig, über die ein Vergabesenat des Oberlan­des­ge­richts entscheidet.

Für Auftrags­vergaben unterhalb der Schwellenwerte gilt der vierte Teil des GWB nicht. Maßgebend für die Vergabe sind das Haushaltsrecht des Bundes und der Länder sowie Verwal­tungs­vor­schriften. Ob und inwieweit den Interessenten ein Anspruch auf Primär­rechts­schutz – also die gerichtliche Kontrolle des laufenden Verga­be­ver­fahrens – zusteht, hängt mangels besonderer Regeln von den Vorgaben der allgemeinen Rechtsordnung ab. Soweit sich danach überhaupt Unter­las­sungs­ansprüche ergeben können, sind diese faktisch in aller Regel nicht durchsetzbar, da sie jedenfalls mit Erteilung des Zuschlags untergehen. Die erfolglosen Bewerber erfahren von ihrer Nicht­be­rück­sich­tigung zumeist erst mit oder nach dem Zuschlag. Faktisch sind die erfolglosen Bewerber um eine Auftragsvergabe unterhalb des Schwellenwertes daher – vorbehaltlich der Möglichkeit einer Feststel­lungsklage – in aller Regel vom Primär­rechts­schutz ausgeschlossen. Ansonsten besteht nur die Möglichkeit von Sekun­där­rechts­schutz durch Geltendmachung etwaiger Schaden­s­er­satz­ansprüche.

Die Beschwer­de­führerin beteiligte sich an einer Ausschreibung des Landesamtes für Straßenwesen des Saarlandes für Verkehrs­si­che­rungs­maß­nahmen auf einer Autobahn. Die Auftragssumme lag unter 5 Mio. Euro und damit unterhalb des maßgeblichen Schwellenwertes. Da ein anderer Bieter den Zuschlag erhielt, beantragte die Beschwer­de­führerin bei der Vergabekammer die Nachprüfung der Vergabe. Die Kammer wies den Antrag als unzulässig zurück. Das Oberlan­des­gericht bestätigte die Entscheidung. Der Nachprü­fungs­antrag sei unzulässig, weil der ausgeschriebene Auftrag den für die Anwendbarkeit der §§ 97 ff. GWB erforderlichen Schwellenwert nicht erreiche.

Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde richtet sich die Beschwer­de­führerin gegen die Beschränkung des Primär­rechts­schutzes auf Entscheidungen über die Vergabe von Aufträgen, deren Volumen oberhalb des Schwellenwertes liegen. Die Verfas­sungs­be­schwerde hatte keinen Erfolg. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellte fest, es sei verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber den Rechtsschutz gegen Verga­be­ent­schei­dungen unterhalb der Schwellenwerte anders gestaltet hat als den gegen Verga­be­ent­schei­dungen, die die Schwellenwerte übersteigen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Beschwer­de­führerin ist nicht in ihrem allgemeinen Justi­z­ge­wäh­rungs­an­spruch (Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt.

Das Grundgesetz garantiert mit dem allgemeinen Justi­z­ge­wäh­rungs­an­spruch Rechtsschutz nur zum Schutz subjektiver Rechte. Die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG, die auch die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funkti­o­ns­be­din­gungen sichert, scheidet als Grundlage eines subjektiven Rechts der Beschwer­de­führerin aus. Das Haushaltsrecht dient nicht der Sicherung des Wettbewerbs oder der Einrichtung einer besonderen Wettbe­wer­bs­ordnung für das Nachfra­ge­ver­halten des Staates, sondern der wirtschaft­lichen Verwendung öffentlicher Mittel. Ein subjektives Recht der Beschwer­de­führerin ergibt sich jedoch aus Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gleichheitssatz bindet staatliche Stellen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Jeder Mitbewerber muss eine faire Chance erhalten, nach Maßgabe der für den spezifischen Auftrag wesentlichen Kriterien und des vorgesehenen Verfahrens berücksichtigt zu werden.

Die in der Rechtsordnung dem übergangenen Konkurrenten eingeräumten Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen Entscheidungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge mit Auftragssummen unterhalb der Schwellenwerte genügen den Anforderungen des Justi­z­ge­wäh­rungs­an­spruchs. Es ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber das Interesse an einer raschen Verga­be­ent­scheidung und damit an der Möglichkeit einer sofortigen Ausführung der Maßnahme für gewichtiger als das des erfolglosen Bieters gehalten hat. Vergaben unterhalb der Schwellenwerte sind ein Massenphänomen. Müssten für solche Vergaben stets bestimmte Verfah­rens­vor­keh­rungen getroffen werden um effektiven Primär­rechts­schutz zu ermöglichen, könnte das die Verwal­tungs­arbeit erheblich beeinträchtigen und dadurch die Wirtschaft­lichkeit der Vergabe leiden. Demgegenüber ist der erfolglose Bieter durch die Auftragsvergabe in einer bloßen Umsatzchance, nicht in seiner persönlichen Rechtsstellung betroffen. Wird er auf einen Schaden­s­er­satz­an­spruch verwiesen, kann sein auf den Erhalt einer Umsatzchance gerichtetes Interesse durch einen solchen Anspruch grundsätzlich ausgeglichen werden. Daher ist es verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber den in der allgemeinen Rechtsordnung verfügbaren Sekun­där­rechts­schutz als ausreichend angesehen und keine besonderen Vorkehrungen zur Realisierung von Primär­rechts­schutz, etwa durch eine Pflicht zur Information des erfolglosen Bieters vor der Zuschlags­er­teilung, getroffen hat.

2. Es verletzt auch nicht den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), dass der Gesetzgeber den Rechtsschutz gegen Verga­be­ent­schei­dungen unterhalb der Schwellenwerte anders gestaltet hat als den gegen Verga­be­ent­schei­dungen, die die Schwellenwerte übersteigen. Die Ungleich­be­handlung ist durch hinreichend gewichtige Gründe gerechtfertigt.

Das öffentliche Beschaf­fungswesen dient der wirtschaft­lichen Verwendung öffentlicher Mittel. Führen bestimmte rechtliche Maßgaben für das Verga­be­ver­fahren zu einer Verteuerung der Auftragsvergabe, ist es sachgerecht, über ihre Einführung mit Blick auf wirtschaftliche Gesichtspunkte zu entscheiden. Werden rechtmäßige Verga­be­ver­fahren auf Initiative des Einzelnen überprüft, entstehen Verfah­rens­kosten, ohne dass diesen Kosten ein Gewinn an Wirtschaft­lichkeit gegenüberstünde. Zudem besteht stets die Gefahr, dass die den Konkurrenten eingeräumten Rechts­schutz­mög­lich­keiten sachwidrig genutzt oder sogar missbraucht werden. Auch darunter kann die Wirtschaft­lichkeit des Beschaf­fungs­wesens leiden. Weiter kann unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Vergabe die Verzögerung, die ein Kontroll­ver­fahren regelmäßig mit sich bringt, ihrerseits Kosten verursachen. Schließlich kann wegen dieser Verzögerung die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe, um deretwillen Mittel beschafft werden sollen, beeinträchtigt oder sogar verfehlt werden.

Der Gesetzgeber hat sich bei der Entscheidung über die Zweiteilung des Vergaberechts nach Maßgabe der Schwellenwerte innerhalb seines Gestal­tungs­spielraums gehalten. Nach der gesetz­ge­be­rischen Lösung hängt von der Größenordnung der Auftragsvergabe ab, ob ein einfach­recht­liches subjektives Recht besteht und das besondere Kontroll­ver­fahren der §§ 102 ff. GWB eröffnet wird. Es ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Gesetz davon ausgeht, dass der mögliche Ertrag an Wirtschaft­lichkeit, den ein solches Verfahren mit sich bringen kann, mit dem Betrag der Beschaffung steigt, und dass der Vorteil bei Verga­be­ent­schei­dungen oberhalb der Schwellenwerte typischerweise nicht wegen der Kosten entfällt, die mit der Kontrolle nach §§ 102 ff. GWB verbunden sind. Angesichts dieser Sachlage durfte der Gesetzgeber den Zugang zu dem Kontroll­ver­fahren in einer typisierenden Regelung davon abhängig machen, dass ein bestimmtes Auftragsvolumen erreicht wird. Dabei begegnet die Anknüpfung an die europarechtlich vorgegebene Typisierung keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 98/2006 vom 24. Oktober 2006

der Leitsatz

1. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bindet staatliche Stellen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

2. Die in der Rechtsordnung dem übergangenen Konkurrenten eingeräumten Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen Entscheidungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge mit Auftragssummen unterhalb der Schwellenwerte genügen den Anforderungen des Justi­z­ge­wäh­rungs­an­spruchs (Art. 20 Abs. 3 GG).

3. Es verletzt nicht den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), dass der Gesetzgeber den Rechtsschutz gegen Verga­be­ent­schei­dungen unterhalb der Schwellenwerte anders gestaltet hat als den gegen Verga­be­ent­schei­dungen, die die Schwellenwerte übersteigen.

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