Der Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer war am 5. September 1977 von Mitgliedern der RAF entführt worden. Sein Fahrer und drei Leibwächter in einem nachfolgenden Auto wurden dabei erschossen. Die RAF wollte mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Gesinnungsgenossen aus der Haft freipressen und drohte mit der Tötung ihrer Geisel.
Die damalige Regierung unter der Führung von Kanzler Helmut Schmidt entschied sich, nicht auf die Forderungen der Entführer einzugehen. Sie blieb auch nach der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut am 13. Oktober 1977 bei ihrer harten Haltung.
Am 15. Oktober 1977 wandte sich der Sohn von Hanns-Martin Schleyer an das Bundesverfassungsgericht mit dem Antrag, die Bundesregierung sowie einige Landesregierungen zu verpflichten, die Forderungen der Terroristen zu erfüllen.
Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag ab. Es sah es als nicht zulässig an, den zuständigen staatlichen Organe vorzuschreiben, welche Maßnahmen sie in dem Entführungsfall zu treffen haben. Zwar verpflichte Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG den Staat, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebiete dem Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen und müsse angesichts des hohen Stellenwertes des menschlichen Lebens auch besonders ernst genommen werden. Es sei jedoch zu beachten gewesen, dass es durch die Freilassung von hoch gefährlichen Terroristen dazu führen kann, dass diese ihr Tun weiter führen und weitere Menschenleben gefährdet werden.
Welche Maßnahmen der Staat zum Schutz des menschlichen Lebens ergreift, so das Bundesverfassungsgericht weiter, könne von ihm daher in freier Verantwortung getroffen werden. Die staatlichen Organe haben darüber zu befinden, welche Schutzmaßnahmen zweckdienlich und geboten sind, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten. Es müsse berücksichtigt werden, dass das Grundgesetz eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger begründet. Daher müssen die zuständigen Stellen in der Lage sein, auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls angemessen zu reagieren. Dies schließe die Festlegung auf ein bestimmtes Vorgehen aus.
Zudem dürfe nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht außer Betracht bleiben, dass durch die Festlegung bestimmter Vorgehensweisen in terroristischen Entführungsfällen die Reaktion des Staates für die Terroristen von vornherein kalkulierbar wird. Dies bedeute aber, dass dem Staat ein effektiver Schutz seiner Bürger unmöglich gemacht wird.
Das Bundesverfassungsgericht traf die obige Entscheidung in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1977. Am Morgen des 16. Oktober um 5 Uhr 50 verkündete der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda das Urteil.
Der GSG 9 gelang es, in der Nacht zum 18. Oktober 1977 die Geiseln der von palästinensischen Terroristen der PFLP entführten Lufthansa-Maschine Landshut in Mogadischu zu befreien. Am gleichen Tag (18. Oktober 1977) wurde Hanns-Martin Schleyer an einem unbekannten Ort in Nordfrankreich ermordet. Seine Leiche wurde am 19. Oktober 1977 in Mülhausen (Frankreich) im Kofferraum eines Audi 100 aufgefunden.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 05.09.2013
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (vt/rb/pt)