15.11.2024
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Dokument-Nr. 2619

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Beschluss13.06.2006Bundesverfassungsgericht1 BvL 9/00; 1 BvL 11/00; 1 BvL 12/00; 1 BvL 5/01; 1 BvL 10/04
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Bundesverfassungsgericht Beschluss13.06.2006

BVerfG erklärt Kürzung von Aussied­ler­renten für verfas­sungsgemäßFür rentennahe Jahrgänge ist aber eine Überg­angs­re­gelung erforderlich

Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, bei der Berechnung der Renten von Aussiedlern und Spätaussiedlern die auf der Grundlage des Fremd­ren­ten­ge­setzes ermittelten Entgeltpunkte um 40 Prozent zu reduzieren. Es verstößt jedoch gegen das rechts­s­taatliche Vertrau­ens­schutz­prinzip, dass die Kürzung auf Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt, ohne eine Überg­angs­re­gelung für zu diesem Zeitpunkt rentennahe Jahrgänge zur Anwendung kommt. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht auf eine entsprechende Vorlage des Bundes­so­zi­al­ge­richts.

Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2007 eine verfas­sungs­gemäße Regelung zu treffen. Noch nicht rechts- oder bestandskräftig abgeschlossene Verfahren, in denen sich Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind und deren Rente nach dem 30. September 1996 begonnen hat, gegen die Absenkung der ihrer Rente zugrunde liegenden Entgeltpunkte wenden, bleiben ausgesetzt oder sind auszusetzen, um den Betroffenen die Möglichkeit zu erhalten, aus den vom Gesetzgeber zu treffenden Regelungen Nutzen zu ziehen. Bereits bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte bleiben von der vorliegenden Entscheidung für die Zeit vor der Bekanntgabe unberührt. Es ist dem Gesetzgeber aber unbenommen, die Wirkung dieser Entscheidung auch auf bereits bestands­kräftige Bescheide zu erstrecken; hierzu verpflichtet ist er nicht.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:

Das Fremd­ren­tenrecht war von der Leitidee bestimmt, Vertriebene und Flüchtlinge in das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Sie wurden rentenrechtlich nach dem Zuzug so behandelt, als ob sie ihre bisherige Erwer­b­s­tä­tigkeit unter der Geltung des Renten­ver­si­che­rungs­rechts der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten. Den von den Vertriebenen in den Herkunfts­ländern zurückgelegten Versi­che­rungs­zeiten wurden fiktive Brutto­a­r­beits­entgelte zugeordnet, für die dann – wie für originäre Versi­che­rungs­zeiten in der Bundesrepublik Deutschland – Entgeltpunkte ermittelt werden. Die Versicherung eines Arbeits­ein­kommens in Höhe des Durch­schnitt­s­entgelts eines Kalenderjahres ergibt einen vollen Entgeltpunkt, aus dem der monatliche Rentenbetrag berechnet wird.

Der politische Wandel in den ehemaligen Ostblock-Staaten und die Wende in der DDR veranlassten den Gesetzeber, das Fremd­ren­tenrecht neu zu regeln. Zunächst führte er 1991 einen Abschlag in Höhe von 30 Prozent auf die nach dem Fremd­ren­ten­gesetz ermittelten Entgeltpunkte ein. Ausgenommen waren unter anderem Aussiedler, die vor 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland genommen haben. Im Jahr 1996 erhöhte der Gesetzgeber den Abschlag auf 40 Prozent und erweiterte den betroffenen Personenkreis durch Änderung der entsprechenden Überg­angs­re­gelung. Damit werden von dem Rentenabschlag grundsätzlich alle nach dem 6. Mai 1996 Zugezogenen und – unabhängig vom Datum des Zuzugs – alle nach dem Fremd­ren­ten­gesetz Berechtigten mit einem Rentenbeginn ab 1. Oktober 1996 erfasst.

Die fünf Kläger der den Vorlagen zugrunde liegenden Ausgangs­ver­fahren siedelten in der Zeit von Oktober 1973 bis August 1990 in die Bundesrepublik Deutschland über. Frühestens ab Oktober 1996 wurde ihnen eine Rente bewilligt. In allen Fällen wurden die nach dem Fremd­ren­tenrecht ermittelten Entgeltpunkte um 40 Prozent gekürzt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die in § 22 Abs. 4 FRG 1996 vorgeschriebene Reduzierung der Entgeltpunkte um 40 Prozent ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

1. Die Regelung ist nicht an Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsschutz) zu messen. Die durch das Fremd­ren­ten­gesetz begründete Rente­n­an­wart­schaft unterliegt nicht dem Eigentumsschutz, wenn ihr ausschließlich Beitrags- und Beschäf­ti­gungs­zeiten zugrunde liegen, die in den Herkunfts­ge­bieten erbracht oder zurückgelegt wurden. Denn insoweit fehlt es am Erfordernis der an einen Versi­che­rungs­träger in der Bundesrepublik Deutschland erbrachten Eigenleistung.

2. Selbst wenn man die Rente­n­an­wart­schaft der Berechtigten, die auf renten­recht­lichen Zeiten sowohl in den Herkunfts­ge­bieten als auch in der Bundesrepublik Deutschland beruht, als Gesamt­rechts­po­sition insgesamt dem Art. 14 Abs. 1 GG unterstellen würde, hätte der Gesetzgeber durch § 22 Abs. 4 FRG 1996 von seiner Befugnis zur Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums einen verfas­sungs­gemäßen Gebrauch gemacht.

Der in der gesetzlichen Regelung liegende Eingriff ist durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt. Die wirtschaftliche Situation der Renten­ver­si­che­rungs­träger war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre durch einen massiven Anstieg der Ausgaben gekennzeichnet, denen ein ausreichendes Beitrags­auf­kommen nicht gegenüberstand. Die in Frage stehende Regelung diente dazu, durch Begrenzung des Ausgabevolumens die Funktions- und Leistungs­fä­higkeit des Systems der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaft­lichen Bedingungen anzupassen.

§ 22 Abs. 4 FRG 1996 ist auch verhältnismäßig. Ist es zur Sicherung der Finan­zie­rungs­grundlagen der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung geboten, renten­rechtliche Positionen zu verändern, so kann der soziale Bezug, der dem Gesetzgeber größere Gestal­tungs­freiheit bei Eingriffen gibt, den Gesetzgeber legitimieren, in Abwägung zwischen Leistungen an Versicherte und Belastungen der Solida­r­ge­mein­schaft vor allem jene Positionen zu verkürzen, die Ausdruck besonderer Vergünstigungen sind. Dies ist hier in Bezug auf die Anwart­schaftsteile der Fall, denen Beitrags- und Beschäf­ti­gungs­zeiten außerhalb der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung der Bundesrepublik Deutschland zugrunde liegen. Denn diesen Anwartschaften stehen Beitrags­leis­tungen zu Gunsten der versi­che­rungs­recht­lichen Solida­r­ge­mein­schaft nicht gegenüber.

3. Auch Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) ist nicht verletzt. Soweit die nach dem Fremd­ren­ten­gesetz Berechtigten anders als diejenigen behandelt werden, die Anwartschaften im sozialen Siche­rungs­system der DDR erworben hatten, ergibt sich die Rechtfertigung der Ungleich­be­handlung daraus, dass die beiden deutschen Staaten eine Einheit auch auf dem Gebiet der Sozia­l­ver­si­cherung angestrebt und vereinbart haben.

II. Es ist jedoch mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem rechts­s­taat­lichen Vertrau­ens­schutz­prinzip unvereinbar, dass § 22 Abs. 4 FRG 1996 auf Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt, ohne eine Überg­angs­re­gelung für zu diesem Zeitpunkte rentennahe Jahrgänge zur Anwendung kommt.

1. Die getroffene Überg­angs­re­gelung, die auch Berechtigte, die bereits vor dem 1. Januar 1991 zugezogen sind, von der Kürzung nicht ausnimmt, wird grundsätzlich den Anforderungen des rechts­s­taat­lichen Vertrau­ens­schutzes gerecht. Die Betroffenen durften nicht damit rechnen, dass sie über die gesamte Zeit ihres Versi­che­rungs­ver­hält­nisses bis zum Beginn der Rente nicht mehr von Kürzungen betroffen sein würden. Ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass allein die nach dem 1. Januar 1991 in die Bundesrepublik zugezogenen, nach dem Fremd­ren­ten­gesetz Berechtigten die Last der Sanierung der Renten­ver­si­che­rungs­träger auf Dauer zu tragen hätten, besteht nicht.

2. Der Gesetzgeber war jedoch unter dem Gesichtspunkt des rechts­s­taat­lichen Vertrau­ens­schutz­prinzips gehalten, auf die legitimen Interessen der rentennahen Jahrgänge durch Erlass einer Überg­angs­re­gelung Rücksicht zu nehmen, die eine auf Rentenzugänge ab dem 1. Oktober 1996 ohne Einschränkung sofort wirksame Anwendung des § 22 Abs. 4 FRG 1996 verhindert. Eine solche Regelung hätte es den Betroffenen ermöglicht, sich auf die neue Rechtslage in angemessener Zeit einzustellen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, § 22 Abs. 4 FRG 1996 auf alle Rentenzugänge nach dem 30. September 1996 anzuwenden, hat die rentennahen Jahrgänge zu kurzfristig mit einer neuen, ihre Anwartschaften erheblich verschlech­ternden Rechtslage konfrontiert. Bei einer schrittweisen Anwendung des Abschlags auf die Entgeltpunkte wäre es den Betroffenen möglich gewesen, von mittel- und langfristig wirkenden finanziellen Dispositionen abzusehen oder diese der verringerten Rente anzupassen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 58/06 des BVerfG vom 30.06.2006

der Leitsatz

1. Die durch das Fremd­ren­ten­gesetz begründeten Rente­n­an­wart­schaften unterliegen nicht dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn ihnen ausschließlich Beitrags- und Beschäf­ti­gungs­zeiten zugrunde liegen, die in den Herkunfts­ge­bieten erbracht oder zurückgelegt wurden.

2. Die durch § 22 Abs. 4 des Fremd­ren­ten­ge­setzes in der Fassung des Wachstums- und Beschäf­ti­gungs­för­de­rungs­ge­setzes vom 25. September 1996 (BGBl I S. 1461) erfolgte Absenkung der auf dem Fremd­ren­ten­gesetz beruhenden Entgeltpunkte um 40 vom Hundert ist auch dann verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Rente­n­an­wart­schaft der Berechtigten, die auf renten­recht­lichen Zeiten sowohl in den Herkunfts­ge­bieten als auch in der Bundesrepublik Deutschland beruht, als Gesamt­rechts­po­sition insgesamt dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG unterstellt würde.

3. Zum verfas­sungs­recht­lichen Erfordernis einer Überg­angs­re­gelung für die von § 22 Abs. 4 des Fremd­ren­ten­ge­setzes in der Fassung von 1996 betroffenen, zum damaligen Zeitpunkt rentennahen Jahrgänge.

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