15.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.07.2006

Verlangen nach Abgabe einer Tarif­t­reu­e­er­klärung bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge verfas­sungsgemäßKein Verstoß gegen Koalitions- oder Berufsfreiheit

Bei der Vergabe öffentlicher Bauleisten dürfen die Länder verlangen, dass die beteiligten Baufirmen ihre Arbeiter nach Tarif bezahlen. Ein entsprechendes Berliner Landesgesetz hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht für verfas­sungsgemäß angesehen. Das Gesetz verletzt weder die Koali­ti­o­ns­freiheit noch die Berufsfreiheit der Firmen.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 des Berliner Vergabegesetzes (VgG Bln) sollen die Berliner Vergabestellen Aufträge u.a. für Bauleistungen mit der Auflage vergeben, dass die Unternehmen ihre Arbeitnehmer bei der Ausführung dieser Leistungen nach den jeweils in Berlin geltenden Entgelttarifen entlohnen. Ähnliche Tarif­t­reu­e­re­ge­lungen gibt es auch in anderen Bundesländern. Der Kartellsenat des Bundes­ge­richtshofs, der über eine Rechts­be­schwerde im Rahmen der Vergabe von Straßen­bau­auf­trägen zu entscheiden hatte, hielt die Regelung für verfas­sungs­widrig und hat sie dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht zur Prüfung vorgelegt. Dieser entschied nun, dass die Tarif­t­reu­e­re­gelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln mit dem Grundgesetz und dem übrigen Bundesrecht vereinbar ist.

Die Vorlage ist zulässig, insbesondere stehen Zweifel an der Vereinbarkeit der Vorschrift mit europäischem Gemein­schaftsrecht der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht entgegen. Bei strittiger gemein­schafts­recht­licher und verfas­sungs­recht­licher Rechtslage gibt es aus der Sicht des deutschen Verfas­sungs­rechts keine feste Rangfolge unter den vom Gericht gegebenenfalls einzuleitenden Zwischen­ver­fahren (Vorab­ent­scheidung nach Art. 234 EG durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zum Bundes­ver­fas­sungs­gericht).

Die Tarif­t­reu­e­re­gelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln ist mit dem Grundgesetz und dem übrigen Bundesrecht vereinbar.

1. Das Land Berlin war nach Art. 72 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für den Erlass der Vorschrift zuständig. Zur Regelung des Wirtschafts­lebens im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gehören auch die Vorschriften über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Diesem Rechtsgebiet sind auch gesetzliche Regelungen darüber zuzuordnen, in welchem Umfang der öffentliche Auftraggeber bei der Verga­be­ent­scheidung über die in § 97 Abs. 4 GWB ausdrücklich vorgesehenen Kriterien hinaus weitere Anforderungen an den Auftragnehmer stellen darf. Von dem für Verga­be­re­ge­lungen einschlägigen Gesetz­ge­bungstitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG hat der Bundes­ge­setzgeber nicht abschließend Gebrauch gemacht. 2. Die Tarif­t­reu­e­re­gelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln verstößt nicht gegen Grundrechte. Sie berührt das Grundrecht der Koali­ti­o­ns­freiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht und verletzt nicht das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.

a) Die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte negative Koali­ti­o­ns­freiheit ist nicht berührt. Die Tarif­t­reu­e­ver­pflichtung schränkt das Recht der am Verga­be­ver­fahren beteiligten Unternehmer, der tarif­ver­trags­schlie­ßenden Koalition fernzubleiben, nicht ein. Durch das Gesetz wird auch kein faktischer Zwang zum Beitritt ausgeübt. Dass sich ein nicht tarifgebundener Unternehmer wegen des Tarif­t­reu­e­zwangs veranlasst sehen könnte, der tarif­ver­trags­schlie­ßenden Koalition beizutreten, um als Mitglied auf den Abschluss künftiger Tarifverträge Einfluss nehmen zu können, auf die er durch die Tarif­t­reu­e­er­klärung verpflichtet wird, liegt fern. Das Grundrecht der negativen Koali­ti­o­ns­freiheit schützt nicht dagegen, dass der Gesetzgeber die Ergebnisse von Koali­ti­o­ns­ver­hand­lungen zum Anknüp­fungspunkt gesetzlicher Regelungen nimmt. Gegen eine gleich­heits­widrige oder unver­hält­nis­mäßige Auferlegung der Ergebnisse fremder Koali­ti­o­ns­ver­ein­ba­rungen ist der Unternehmer gegebenenfalls durch Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG geschützt.

Die Tarif­t­reu­e­re­gelung berührt auch nicht die Bestands- und Betäti­gungs­ga­rantie der Koalitionen. Die Regelung führt insbesondere nicht zu einer staatlichen Normsetzung in einem Bereich, in dem den tarifautonom gesetzten Absprachen der Sozialpartner ein Vorrang zukommt. Die örtlichen tarif­ver­trag­lichen Entgeltabreden werden nicht kraft staatlicher Geltungs­a­n­ordnung Inhalt der Arbeitsverträge der bei der Auftrags­aus­führung eingesetzten Mitarbeiter, sondern nach indivi­du­a­l­ver­trag­licher Umsetzung der Tarif­t­reu­e­ver­pflichtung durch den Arbeitgeber.

b) Die Tarif­t­reu­e­re­gelung verletzt nicht Art. 12 Abs. 1 GG. Der Eingriff in die Berufsfreiheit ist verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt. Zwar betrifft die den Bauunternehmen auferlegte Tarif­t­reu­e­pflicht durch die Einflussnahme auf die Verträge mit Arbeitnehmern und Geschäfts­partnern einen wichtigen Gewähr­leis­tungs­gehalt der Berufsfreiheit. Das Gewicht des Eingriffs wird jedoch dadurch gemindert, dass die Verpflichtung zur Zahlung der Tariflöhne nicht unmittelbar aus einer gesetzlichen Anordnung folgt, sondern erst infolge der eigenen Entscheidung, im Interesse der Erlangung eines öffentlichen Auftrags eine Verpflich­tungs­er­klärung abzugeben. Die Auswirkungen der Tarif­t­reu­e­pflicht sind zudem auf den einzelnen Auftrag beschränkt. Die recht­fer­ti­genden Gründe, die den Gesetzgeber zu der Regelung veranlasst haben, haben demgegenüber erhebliches Gewicht. Die Erstreckung der Tariflöhne auf Außenseiter soll einem Verdrän­gungs­wett­bewerb über die Lohnkosten entgegenwirken, die Ordnungs­funktion der Tarifverträge unterstützen und damit zur Bekämpfung der Arbeits­lo­sigkeit im Bausektor beitragen. Sie dient dem Schutz der Beschäftigung solcher Arbeitnehmer, die bei tarifgebunden Unternehmen arbeiten, und damit auch der Erhaltung als wünschenswert angesehener sozialer Standards und der Entlastung der bei hoher Arbeits­lo­sigkeit oder bei niedrigen Löhnen verstärkt in Anspruch genommenen Systeme der sozialen Sicherheit. Die Bekämpfung der Arbeits­lo­sigkeit in Verbindung mit der Gewährleistung der finanziellen Stabilität des Systems der sozialen Sicherung ist ein besonders wichtiges Ziel, bei dessen Verwirklichung dem Gesetzgeber gerade unter den gegebenen schwierigen arbeits­ma­rkt­po­li­tischen Bedingungen ein relativ großer Entschei­dungs­spielraum zugestanden werden muss. Dieser Gemein­wohl­belang, dem die Tarif­t­reu­e­re­gelung Rechnung zu tragen versucht, besitzt eine überragende Bedeutung.

3. Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln ist auch mit sonstigem Bundesrecht vereinbar und deshalb nicht nach Art. 31 GG unwirksam. Sie steht nicht im Widerspruch zu § 5 TVG, da die Tarif­t­reu­e­er­klärung nicht mit der Allge­mein­ver­bind­li­ch­er­klärung eines Tarifvertrags vergleichbar ist. Die Vorschrift verstößt auch nicht gegen § 20 Abs. 1 GWB. Auch bei markt­be­herr­schender Stellung des Landes Berlin auf der Nachfrageseite bewirkt die Tarif­t­reu­e­er­klärung keine unbillige Behinderung oder sachlich nicht gerechtfertigte unter­schiedliche Behandlung von Unternehmen auf Anbieterseite.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 105/06 des BVerfG vom 03.11.2006

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