14.11.2024
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Dokument-Nr. 7090

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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.11.2008

Begünstigung von Versicherten mit 45 Pflicht­bei­trags­jahren und Rentenabschläge bei vorzeitigem Bezug sind verfas­sungsgemäß

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied über fünf Vorlagen des Bundes­so­zi­al­ge­richts, die den vorzeitigen Bezug von Altersrenten betreffen. Der Senat sah es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz als vereinbar an, dass Versicherte, die vor dem 1. Januar 1942 geboren sind und 45 Pflicht­bei­tragsjahre in der Renten­ver­si­cherung erreicht haben, beim Bezug einer Altersrente gesetzlich begünstigt werden. Gleichzeitig stellten die Richter fest, dass die Kürzung der Altersrente bei vorzeitiger Inanspruchnahme weder die Eigen­tums­ga­rantie noch den Gleich­heits­grundsatz verletzt.

Die Kläger der fünf Ausgangs­ver­fahren beantragten vorzeitig eine Altersrente wegen Arbeits­lo­sigkeit oder nach Alters­teil­zeit­arbeit gem. § 237 SGB VI ab Vollendung ihres 60. Lebensjahres und erhielten aufgrund des geminderten Zugangsfaktors nur eine gekürzte Rentenleistung. Vier der Kläger waren vor dem 1. Januar 1942 geboren, ihnen fehlte jedoch für einen günstigeren Rentenbezug die Voraussetzung von 45 Pflicht­bei­trags­jahren. Das Bundes­so­zi­al­gericht hat alle Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage, ob die oben dargestellten Vorschriften mit dem Grundgesetz vereinbar sind, zur Entscheidung vorgelegt.

Im Wesentlichen liegen der Entscheidung folgende Erwägungen zugrunde:

§ 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 SGB VI verletzt nicht Art. 3 Abs. 1 GG. Versicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung können weiterhin die günstigen niedrigeren Altersgrenzen nach dem Renten­re­form­gesetz 1992 beanspruchen, wenn sie vor dem 1. Januar 1942 geboren sind und in ihrem Versi­cher­tenkonto 45 Pflicht­bei­tragsjahre aufweisen. Dadurch vermindert sich bezogen auf ein bestimmtes Lebensalter die Anzahl von Monaten eines vorzeitigen Rentenbezugs, was zu einer geringeren Kürzung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI als für andere Versicherte im gleichen Lebensalter führt und zur Folge hat, dass in die Rentenformel persönliche Entgeltpunkte in einem größeren Umfang eingestellt werden als für die übrigen Versicherten. Die Differenzierung danach, ob ein Versicherter 45 Pflicht­bei­tragsjahre aufweisen kann, führt damit zu einer Ungleich­be­handlung zweier Gruppen von Versicherten. Diese ist aber sachlich gerechtfertigt, weil der Gesetzgeber mit dem Erfordernis von 45 Pflicht­bei­trags­jahren eine zeitliche Anspruchs­vor­aus­setzung geschaffen hat, die dem System der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung nicht fremd ist. Der Umfang von Versi­che­rungs­zeiten ist in der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung seit jeher ein die Entstehung und Berechnung der Renten bestimmender Faktor. Auch eine Versi­che­rungszeit von 45 Jahren ist in der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung als Berech­nungs­faktor nicht unüblich: Dabei dient der sog. "Eckrentner", also der Versicherte, der über 45 Jahre hinweg Beiträge aus dem sich jedes Jahr ändernden jährlichen Durch­schnitts­ver­dienst aller Versicherten in die gesetzliche Renten­ver­si­cherung abführt, als Vergleichsgröße, um die Entwicklung der Rentenhöhen in der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung über die Jahre verfolgen zu können. Die Privilegierung von Versicherten mit 45 Pflicht­bei­trags­jahren ist durch deren dauerhafte und berechenbare Beitrags­leistung zur Finanzierung der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung gerechtfertigt. Pflicht­ver­si­cherte in der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung haben in der Regel nach Beitragszeit, Beitragsdichte und Beitragshöhe in wesentlich stärkerem Maße zur Versi­cher­ten­ge­mein­schaft beigetragen und konnten dabei im Gegensatz zu freiwillig Versicherten nicht ausweichen. Die Pflicht­ver­si­cherten, mit deren Beiträgen die Renten­ver­si­cherung dauerhaft und kalkulierbar rechnen kann, sind insofern die tragende Säule der Finanzierung des Systems der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung.

§ 237 Abs. 3 in Verbindung mit § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI verstößt ebenfalls nicht gegen Verfas­sungsrecht. Die Vorschriften über die Bestimmung von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente wegen Arbeits­lo­sigkeit oder nach Alters­teil­zeit­arbeit bilden eine zulässige Inhalts- und Schran­ken­be­stimmung nach Art. 14 Abs. 1 GG. Die in den Abschlags­re­ge­lungen liegende Einschränkung der Anwartschaft ist durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt und entspricht den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes. Der Kürzung von Rente­n­an­wart­schaften steht die Kosten­neu­tralität des vorzeitigen Rentenbezugs für die Versi­cher­ten­ge­mein­schaft und damit die Sicherung der Finan­zie­rungs­grundlagen der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung gegenüber. Der Gesetzgeber hat mit der Einführung eines die vorgezogene Altersrente kürzenden Zugangsfaktors ein Mittel gewählt, das die vor dem Renten­re­form­gesetz 1992 alle Versicherten belastenden Kosten des vorzeitigen Alters­ren­ten­bezugs allein denjenigen Versicherten auferlegt, die tatsächlich früher eine Altersrente beziehen. Es lag auch im Ge-staltungs­er­messen des Gesetzgebers, die Bestimmung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI nach den von ihm gewählten versi­che­rungs­ma­the­ma­tischen Berechnungen vorzunehmen. Der Gesetzgeber ist bei der Bestimmung der Rechengrößen für die vorgezogene Rente gemessen an seinem Konzept weder an der Realität vorbei gegangen noch hat er die Zahlen willkürlich bestimmt. Außerdem sind mit dem vorzeitigen Bezug die Vorteile eines früheren Ruhestands verbunden. In allen fünf Ausgangs­ver­fahren konnten Versicherte bei der Entscheidung über den mit Abschlägen verbundenen Rentenzugang uneingeschränkt über den Zeitpunkt ihrer Rente­n­an­trag­stellung bestimmen und damit selbst auf die Höhe der schläge Einfluss nehmen. Diesem Zuwachs an individueller Freiheit im Alter steht eine dauerhafte Rentenkürzung für den früheren Renteneintritt sachgerecht gegenüber.

Die Einführung des mit dauerhaften Kürzungen der Altersrente bei vorzeitigem Rentenbezug verbundenen Zugangsfaktors genügt auch dem rechts­s­taat­lichen Grundsatz des Vertrau­ens­schutzes. Die in den Jahren 1941 und 1942 geborenen Kläger der Ausgangs­ver­fahren mussten damit rechnen, dass der Gesetzgeber angesichts der angespannten finanziellen Situation der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung in den 1990er Jahren gehalten sein könnte, zur Sicherung der Finan­zie­rungs­grundlagen der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung noch weitergehende Änderungen an dem zunächst langfristig angelegten Überg­angs­konzept des Renten­re­form­ge­setzes 1992 vorzunehmen. Ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand von Modalitäten der Überg­angs­re­gelung konnte insofern unter diesen Umständen nicht entstehen.

Soweit Gegenstand der Vorlagefrage Art. 3 Abs. 1 GG war und das Bundes­so­zi­al­gericht darauf abstellt, dass eine Rentenkürzung auch dann noch erfolgt, wenn der individuelle Vorteil eines vorzeitigen Rentenbezugs mit 87 Jahren und 10 Monaten rechnerisch ausgeglichen sein wird, läuft dieses Argument schon den Grundprinzipien der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung als einer Solida­r­ge­mein­schaft zuwider. Es findet insofern wie in jeder Versicherung ein Risikoausgleich innerhalb der Versi­cher­ten­ge­mein­schaft statt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass nach der Sterbetafel 2005/2007 die durch­schnittliche Lebenserwartung in Deutschland zwar zugenommen, die durch­schnittliche Gesamt­le­bensdauer 60-jähriger Versicherter aber nach den maßgeblichen Statistiken immer noch deutlich unter der vom Bundes­so­zi­al­gericht errechneten Grenze von 87 Jahren und 10 Monaten liegt.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 102/08 des BVerfG vom 04.12.2008

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