18.10.2024
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Sie sehen ein altes Ehepaar auf einer Parkbank.

Dokument-Nr. 2215

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Bundesverfassungsgericht Beschluss28.03.2006

Zeiten des Mutterschutzes sind bei der Anwart­schaftszeit in der gesetzlichen Arbeits­lo­sen­ver­si­cherung zu berücksichtigenAlte Regelung verletzte Schutz- und Fürsor­ge­an­spruch der Mutter

Nach dem vom 1. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Recht wurden Zeiten, in denen Frauen wegen der mutter­schutz­recht­lichen Beschäf­ti­gungs­verbote ihre versi­che­rungs­pflichtige Beschäftigung unterbrachen, bei der Berechnung der Anwart­schaftszeit in der gesetzlichen Arbeits­lo­sen­ver­si­cherung nicht berücksichtigt. Dies ist mit Art. 6 Abs. 4 GG (Schutz- und Fürsor­ge­an­spruch der Mutter) nicht vereinbar, entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht anlässlich einer Vorlage durch das Bundes­so­zi­al­gericht.

Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, bis zum 31. März 2007 für den betroffenen Zeitraum eine verfas­sungs­gemäße Regelung zu treffen. Noch nicht rechts- oder bestandskräftig abgeschlossene Gerichts- und Verwal­tungs­ver­fahren bleiben ausgesetzt oder sind auszusetzen, um den Betroffenen die Möglichkeit zu erhalten, aus der vom Gesetzgeber zu treffenden Regelung Nutzen zu ziehen. Bereits bestandskräftig gewordene Verwal­tungs­ent­schei­dungen bleiben von der vorliegenden Entscheidung unberührt. Es ist dem Gesetzgeber aber unbenommen, die Wirkung dieser Entscheidung auch auf bereits bestands­kräftige Bescheide zu erstrecken.

Rechtlicher Hintergrund:

Nach dem Mutter­schutz­gesetz dürfen Frauen, die den Schutz des Gesetzes genießen, sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden. Sie erhalten für die Dauer der Beschäf­ti­gungs­verbote Lohnersatz in der Form des Mutter­schafts­geldes und eines Zuschusses zum Mutter­schaftsgeld durch den Arbeitgeber in Anknüpfung an die Höhe ihres Arbeitsentgelts.

Voraussetzung für einen Anspruch auf Arbeits­lo­sengeld ist die Erfüllung der Anwart­schaftszeit. Nach der gesetzlichen Regelung hat die Anwart­schaftszeit erfüllt, wer in den letzten drei Jahren („Rahmenfrist“) vor der Arbeits­los­meldung und der eingetretenen Arbeits­lo­sigkeit mindestens zwölf Monate in einem Versi­che­rungs­pflicht­ver­hältnis gestanden hat. In dem hier maßgeblichen Zeitraum von 1998 bis 2002 begründete der Bezug von Mutter­schaftsgeld kein Versi­che­rungs­pflicht­ver­hältnis mit der Folge, dass die Zeiten der mutter­schutz­recht­lichen Beschäf­ti­gungs­verbote nicht zur Erfüllung der Anwartschaft für den Bezug von Arbeits­lo­sengeld beitrugen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Untersagt der Gesetzgeber – wie in den Regelungen zum Mutter­schutz­gesetz – der Frau für eine bestimmte Zeit vor oder nach der Geburt eines Kindes die Fortsetzung oder Wiederaufnahme ihrer versi­che­rungs­pflichtigen Beschäftigung, so ist er auf Grund seines Schutzauftrages aus Art. 6 Abs. 4 GG gehalten, die sich aus diesem Verbot unmittelbar ergebenden sozia­l­recht­lichen Nachteile soweit wie möglich auszugleichen. Denn sonst bliebe der mit den Beschäf­ti­gungs­verboten angestrebte Schutz von Mutter und Kind unvollständig. Es ist daher mit Art. 6 Abs. 4 GG unvereinbar, wenn Zeiten der mutter­schutz­recht­lichen Beschäf­ti­gungs­verbote bei der Berechnung der Anwart­schaftszeit in der gesetzlichen Arbeits­lo­sen­ver­si­cherung nicht berücksichtigt werden.

Das Bedürfnis nach Berück­sich­tigung der Zeit des Beschäf­ti­gungs­verbots im Rahmen der Berechnung der Anwart­schaftszeit entfällt nicht dadurch, dass die Mutter berechtigt ist, ihr versi­che­rungs­pflichtiges Beschäf­ti­gungs­ver­hältnis bis zur Geburt aufrecht­zu­er­halten. Diese Möglichkeit wurde der schwangeren Frau nicht eröffnet, damit sie den in Frage stehenden sozia­l­ver­si­che­rungs­recht­lichen Nachteil vermeiden kann. Vielmehr liegt der Ausnah­me­re­gelung die Erfahrung zu Grunde, dass es für die Schwangere im Einzelfall psychisch günstiger sein kann, sich durch die bisherige, gewohnte Arbeit abzulenken.

Auch die dreijährige Rahmenfrist (ursprünglich zwei Jahre) gleicht den sozia­l­ver­si­che­rungs­recht­lichen Nachteil nicht hinreichend aus. Zwar kam eine verlängerte Rahmenfrist auch den Müttern zugute, die in Folge der Beschäf­ti­gungs­verbote ihre Erwer­b­s­tä­tigkeit für einige Zeit unterbrochen hatten. Bei einem – keineswegs atypischen – Wechsel von Beschäftigung, Mutter­schutzzeit und Arbeits­lo­sigkeit war sie jedoch nicht hinreichend geeignet, in einer dem Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 4 GG genügenden Weise für den Fall der Arbeits­lo­sigkeit sozia­l­ver­si­che­rungs­rechtlich vorzusorgen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 30/06 des BVerfG vom 11.04.2006

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