15.11.2024
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Dokument-Nr. 14519

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Urteil02.11.2012BundessozialgerichtB 4 AS 39/12 R
Vorinstanzen:
  • Sozialgericht Frankfurt am Main, Urteil, S 29 AS 714/07
  • Hessisches Landessozialgericht, Urteil, L 7 AS 314/11
ergänzende Informationen

Bundessozialgericht Urteil02.11.2012

Hartz IV: Ersatzpflicht besteht nur bei "sozialwidrigem Verhalten" mit spezifischem Bezug zur Leistungs­er­bringungSozia­l­leis­tungs­träger kann Straftäter nicht immer in Haftung nehmen

Nicht jedes strafbare Verhalten, das zu einer Leistungs­er­bringung nach dem SGB II führt, hat eine Ersatzpflicht zur Folge. Erfasst wird nur ein "sozialwidriges Verhalten" mit spezifischem Bezug zur Leistungs­er­bringung. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts hervor.

Der 1973 geborene Kläger des zugrunde liegenden Streitfalls wurde wegen einer im Juli 2003 begangenen Straftat (räuberischer Diebstahl in Tateinheit mit vorsätzlicher Körper­ver­letzung, versuchte Vergewaltigung) zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Wegen des dringenden Verdachts, dass er die Geschädigte (erneut) telefonisch kontaktiere, war er vom 17. Januar 2005 bis zum 18. März 2005 in Unter­su­chungshaft. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeits­ver­hältnis des Klägers zum 24. Januar 2005.

Sozia­l­hil­fe­träger verlangt Kostenersatz wegen schuldhaften Verhaltens des Klägers

Der SGB II-Träger bewilligte der Ehefrau und der gemeinsamen, 2004 geborenen Tochter für die Zeit vom 15. Februar bis 31. März 2005 SGB II-Leistungen. Von dem Kläger verlangte er "Kostenersatz wegen schuldhaften Verhaltens" in Höhe von 1.477,41 Euro, weil dieser mit dem Verlust des Arbeitsplatzes infolge seiner Inhaftierung die Hilfe­be­dürf­tigkeit von Ehefrau und Kind grob fahrlässig herbeigeführt habe.

LSG: Kläger handelte sozialwidrig ohne wichtigen Grund im Sinne von § 34 SGB II

Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat die Ersatzbescheide aufgehoben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Hessisches Landes­so­zi­al­gericht das Urteil des Sozialgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Durch seine strafbare Handlung habe der Kläger im Sinne von § 34 SGB II sozialwidrig ohne wichtigen Grund und zumindest grob fahrlässig gehandelt. Sowohl im Zeitpunkt des sozialwidrigen Verhaltens (Straftat im Jahre 2003) als auch bei Eintritt der Hilfe­be­dürf­tigkeit (Unter­su­chungshaft im Jahre 2005) habe die Bedarfs­ge­mein­schaft mit der Ehefrau und dem Kind existiert und während der Haft fortbestanden.

BSG: Nicht jedes verwerfliches Verhalten hat Ersatzpflicht zur Folge

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat der Revision des Klägers stattgegeben. Nicht jedes – hier in hohem Maße gegebene – verwerfliche Verhalten, das zu einer Leistungs­er­bringung nach dem SGB II führt, hat eine Ersatzpflicht zur Folge. Erfasst wird nur ein "sozialwidriges Verhalten" mit spezifischem Bezug zur Leistungs­er­bringung. Dies ergibt sich aus der Entste­hungs­ge­schichte der Koste­n­er­satz­pflicht in ihrer Neufassung bei Einführung des Bundes­so­zi­a­l­hil­fe­ge­setzes sowie dem jetzigen systematischen Kontext des § 34 SGB II mit weiteren SGB II-Regelungen.

Auf existenz­si­chernde und bedarfs­ab­hängige Leistungen besteht grundsätzlich unabhängig von der Ursache Rechtsanspruch

Die einschränkende Auslegung gilt auch für die Anwendung des § 34 Abs. 1 SGB II, weil es sich um existenz­si­chernde und nur bedarfs­ab­hängige Leistungen handelt, auf die ein Rechtsanspruch besteht und die grundsätzlich unabhängig von ihrer Ursache und einem etwaigen vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind. Dieser Grundsatz darf nicht durch eine weitreichende Ersatzpflicht unterlaufen werden. Zudem sind die z.T. vom Sozia­l­hil­ferecht abweichenden Wertungen des SGB II bei der Einstufung eines Verhaltens als sozialwidrig im Sinne des § 34 SGB II einzubeziehen.

Verhalten des Klägers war nicht auf Herbeiführung von Bedürftigkeit oder Wegfall der Erwer­bs­fä­higkeit gerichtet

Unter Berück­sich­tigung dieser Grundsätze ist das Verhalten des Klägers nicht als sozialwidrig im Sinne des § 34 SGB II einzustufen, obwohl es – wie dessen strafrechtliche Bewertung zeigt – in hohem Maße verwerflich ist. Anders als möglicherweise bei Vermö­gens­de­likten besteht bei den hier im Mittelpunkt stehenden Straftaten keine spezifische Beziehung bzw. kein innerer Zusammenhang zur Herbeiführung von Hilfe­be­dürf­tigkeit nach dem SGB II. Das mit der Straftat im Jahre 2003 im Zusammenhang stehende, konkret zur Inhaftierung im Januar 2005 führende Verhalten des Klägers war in seiner Handlungs­tendenz nicht auf die Herbeiführung von Bedürftigkeit bzw. den Wegfall der Erwer­bs­fä­higkeit oder -möglichkeit gerichtet.

Quelle: Bundessozialgericht/ra-online

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