14.11.2024
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Dokument-Nr. 998

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Bundesgerichtshof Urteil21.09.2005

Zur Erstat­tungs­fä­higkeit der Kosten einer auf die Geburt eines zweiten Kindes abzielenden künstlichen Befruchtung in der privaten Kranken­ver­si­cherung

Die Parteien haben darüber gestritten, ob der beklagte private Kranken­ver­si­cherer dem Kläger und Versi­che­rungs­nehmer, welcher auf natürlichem Wege keine Kinder zeugen kann, jedoch zusammen mit seiner Ehefrau mit Hilfe künstlicher Befruchtung bereits einen Sohn gezeugt hat, die Kosten für weitere Behand­lungs­zyklen einer homologen In-vitro-Fertilisation (IVF) mit intra­cy­to­plas­ma­tischer Spermie­n­in­jektion (ICSI) zu ersetzen hat.

Die Eheleute wünschen sich ein zweites Kind. Zu diesem Zweck unterzogen sie sich im Oktober/November 2000 und im Juni 2002 zwei weiteren Behand­lungs­zyklen, welche nicht zu einer Schwangerschaft führten. Der Kläger hat von der Beklagten die Erstattung der Kosten für diese erneuten Behandlungen gefordert und darüber hinaus die Feststellung begehrt, dass die Beklagte auch die Kosten für weitere acht noch in Aussicht genommene IVF/ICSI-Behand­lungs­zyklen zu erstatten habe.

Nachdem sie bereits die Kosten für die Behand­lungs­zyklen getragen hatte, die schließlich zur Geburt des ersten Kindes geführt hatten, hat die Beklagte die Auffassung vertreten, die weiteren Kosten für die künstliche Zeugung eines zweiten Kindes nicht mehr tragen zu müssen. Die Krankheit des Klägers sei bereits mit Geburt seines Sohnes gelindert; im Übrigen seien die Erfolgs­aus­sichten weiterer Behand­lungs­versuche in Anbetracht des Alters der 1960 geborenen Ehefrau des Klägers zu gering.

Der IV. Zivilsenat des Bundes­ge­richtshofs hat die Beklagte dazu verurteilt, die Kosten für die beiden im Oktober/November 2000 und Juni 2002 durchgeführten Behand­lungs­zyklen zu erstatten.

Versi­che­rungsfall in der hier in Rede stehenden Kranken­ver­si­cherung ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen. Was den Versi­che­rungsfall ausmacht, wird zum einen durch die Bezeichnung eines die Behandlung auslösenden Ereignisses oder Zustandes (Krankheit oder Unfallfolgen) ausgefüllt, zum anderen dadurch festgelegt, dass es sich bei der Behandlung um eine medizinisch notwendige Heilbehandlung handeln muss. Wie schon in früheren Entscheidungen hat der Senat hervorgehoben, dass die Krankheit eines zeugungs­un­fähigen Versi­che­rungs­nehmers allein seine auf körperlichen Ursachen beruhende Unfähigkeit ist, auf natürlichem Wege Kinder zu zeugen. Demgegenüber stellt seine Kinderlosigkeit keine Krankheit und auch keine die Erkrankung derart kennzeichnende Krankheitsfolge dar, dass davon gesprochen werden könnte, mit dem Ende der Kinderlosigkeit sei auch eine endgültige Linderung der Krankheit eingetreten.

Der Wunsch von Eheleuten nach einem zweiten Kind, der als solcher jeder rechtlichen Nachprüfung entzogen ist, kann daher erneut den Bedarf auslösen, die gestörte Körperfunktion durch medizinische Maßnahmen zu ersetzen. Soll dabei die Unfruchtbarkeit des Mannes gelindert werden, so ist die IVF/ICSI-Behandlung insgesamt eine auf dieses Krankheitsbild abgestimmte Heilbehandlung. Die Erstat­tungs­fä­higkeit der Behand­lungs­kosten hängt deshalb vorwiegend von der medizinischen Notwendigkeit der Behandlung ab. Sie ist gegeben, wenn die medizinischen Befunde und Erkenntnisse es im Zeitpunkt der Behandlung vertretbar erscheinen lassen, die Behandlung als notwendig anzusehen. Dass die IVF/ICSI-Behandlung allgemein eine medizinisch anerkannte Methode zur Überwindung von Sterilität darstellt, besagt aber noch nicht, dass die Maßnahme auch in jedem Einzelfall ausreichend Erfolg versprechend ist, um ihre bedin­gungs­gemäße Notwendigkeit zu bejahen. Dazu hat der Senat die folgenden Maßstäbe aufgestellt:

Auszugehen ist von der durch das Deutsche IVF-Register seit 1982 umfassend dokumentierten Erfolgs­wahr­schein­lichkeit der Behandlungen in Abhängigkeit vom Lebensalter der Frau. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, inwieweit individuelle Faktoren ihre Einordnung in die ihrem Lebensalter entsprechende Altersgruppe rechtfertigen, ob also ihre persönlichen Erfolgs­aus­sichten höher oder niedriger einzuschätzen sind, als die im IVF-Register für ihre Altersgruppe ermittelten Durch­schnittswerte es ausweisen. Bedeutsam für diese Beurteilung kann unter anderem sein, ob eine IVF/ICSI-Behandlung bei denselben beteiligten Personen bereits früher einmal erfolgreich war, ob dafür viele oder nur wenige Behand­lungs­zyklen benötigt wurden, ferner die Zahl und Qualität der beim zuletzt vorgenommenen Behand­lungs­versuch gefundenen Spermien, Eizellen und übertragenen Embryonen.

Eine Vielzahl vergeblicher Behand­lungs­versuche in der Vergangenheit kann die individuelle Erfolgsaussicht verringern. Für die Prognose von Bedeutung ist weiter die Stimu­la­ti­o­ns­si­tuation beim letzten Behand­lungs­zyklus (Stimu­la­ti­o­ns­pro­tokoll und Gonadotropinart), schließlich auch die Frage, inwieweit der allgemeine Gesund­heits­zustand der beteiligten Frau vom Durchschnitt ihrer Altersgruppe abweicht.

Von einer nicht mehr ausreichenden Erfolgsaussicht - und damit von einer nicht mehr gegebenen bedin­gungs­gemäßen medizinischen Notwendigkeit der IVF/ICSI-Behandlung - ist dann auszugehen, wenn die Wahrschein­lichkeit, dass ein Embryotransfer (Punktion) zur gewünschten Schwangerschaft führt, signifikant absinkt und eine Erfolgs­wahr­schein­lichkeit von 15 % nicht mehr erreicht wird. Das ist im Durchschnitt bei Frauen nach Vollendung des 40. Lebensjahrs der Fall, kann aber aufgrund der vorgenannten individuellen Faktoren im Einzelfall früher oder später eintreten.

Im entschiedenen Fall war die geforderte Erfolgs­wahr­schein­lichkeit nur für die beiden bereits in den Jahren 2000 und 2002 durchgeführten Behand­lungs­zyklen gegeben.

Vorinstanzen:

Landgericht München I - 25 O 7593/02 ./. Oberlan­des­gericht München - 25 U 4788/03

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 129/2005 des Bundesgerichtshofs vom 21.09.2005

der Leitsatz

MB/KK 94 § 1 Abs. 2 Satz 1

Zur Erstat­tungs­fä­higkeit der Kosten einer auf die Geburt eines zweiten Kindes abzielenden homologen In-vitro-Fertilisation (IVF) mit intra­cy­to­plas­ma­tischer Spermie­n­in­jektion (ICSI) in der privaten Kranken­ver­si­cherung.

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