06.01.2025
Urteile, erschienen im Dezember 2024
  Mo Di Mi Do Fr Sa So
48       1
49 2345678
50 9101112131415
51 16171819202122
52 23242526272829
1 3031     
Urteile, erschienen im Januar 2025
  Mo Di Mi Do Fr Sa So
1   12345
2 6789101112
3 13141516171819
4 20212223242526
5 2728293031  
06.01.2025  
Sie sehen einen Schreibtisch mit einem Tablet, einer Kaffeetasse und einem Urteil.

Dokument-Nr. 34677

Drucken
Urteil19.12.2024BundesgerichtshofIII ZR 24/23
Vorinstanzen:
  • Landgericht München I, Urteil10.02.2021, 15 O 18592/17
  • Oberlandesgericht München, Urteil31.01.2023, 1 U 1316/21
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil19.12.2024

Koope­ra­ti­o­ns­ver­hältnis im Lebens­mit­telrecht zwischen dem Lebens­mit­tel­un­ter­nehmer und den Gesund­heits­be­hörden und dadurch bedingte Begrenzung der Amtser­mitt­lungs­pflichtBGH-Urteil zur öffentlichen Warnung des Freistaats Bayern vor Produkten der Großmetzgerei Sieber

Der Bundes­ge­richtshof hat entschieden, dass im Lebens­mit­telrecht zwischen dem Lebens­mit­tel­un­ter­nehmer und den für die Überwachung der Lebens­mit­tel­si­cherheit zuständigen Behörden ein Koope­ra­ti­o­ns­ver­hältnis besteht, auf Grund dessen der Lebens­mit­tel­un­ter­nehmer verpflichtet ist, bei einer öffentlichen Produktwarnung beziehungsweise bei einem Produktrückruf mit den zuständigen Behörden - deren Sachver­halt­s­er­mitt­lungs­pflicht begrenzend - aktiv zusam­men­zu­a­r­beiten.

Der Kläger macht als Insol­venz­ver­walter über das Vermögen der S-Gesellschaft für Wurst- und Schin­ken­spe­zi­a­litäten mbH (im Folgenden: S-GmbH oder Insol­venz­schuldnerin) gegenüber dem beklagten Freistaat Bayern Schaden­s­er­satz­ansprüche aus Amtshaftung im Zusammenhang mit einer öffentlichen Produktwarnung geltend.

Die S-GmbH stellte Wurst- und Schin­ken­produkte sowie vegetarische Nahrungsmittel her. Am 16. März 2016 entnahm die Lebens­mit­te­l­über­wachung in einem Verbrau­chermarkt eine Probe des von der Insol­venz­schuldnerin hergestellten Produkts "Original Bayerisches Wachol­der­wammerl". In dieser Probe stellte das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebens­mit­tel­si­cherheit (LGL) Listerien weit über dem zulässigen Grenzwert fest. Listerien sind Bakterien, die insbesondere für Schwangere, Neugeborene und Immun­ge­schwächte lebens­ge­fährlich sein können.

Im April 2016 wurden im Betrieb der Insol­venz­schuldnerin in mehreren Proben von Wammer­l­pro­dukten erneut Listerien qualitativ festgestellt. Am 19. Mai 2016 teilte das Ministerium für Ländlichen Raum und Verbrau­cher­schutz Baden-Württemberg dem Bayerischen Staats­mi­nis­terium für Umwelt und Verbrau­cher­schutz mit, Untersuchungen beim Robert Koch-Institut und beim Bundesamt für Risikobewertung hätten ergeben, dass die im März 2016 entnommene "Wachol­der­wammerl-Probe" identisch mit einem humanen Erkrankungs-Cluster sei, an dem in Süddeutschland seit 2012 über 75 Menschen erkrankt seien. Am 27. Mai 2016 übermittelte das LGL der S-GmbH die Ergebnisse der Untersuchungen von Proben, die am 20. sowie zusätzlich am 23. Mai 2016 entnommen worden waren. In Proben von fünf weiteren Produkten wurde eine unzulässige Belastung mit Listerien festgestellt.

Ebenfalls am 27. Mai 2016 kamen die zuständigen Behör­den­mi­t­a­r­beiter des Beklagten bei einer Telefon­kon­ferenz unter Leitung des Bayerischen Staats­mi­nis­teriums für Umwelt und Verbrau­cher­schutz zu dem Ergebnis, dass es erforderlich sei, die Öffentlichkeit zu informieren. Die S-GmbH wurde zu der beabsichtigten Presse­mit­teilung, in der vor ihren Produkten gewarnt werden sollte, angehört und beantragte am selben Tag um 16.34 Uhr beim Verwal­tungs­gericht, dem Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu untersagen, vor den Produkten der S-GmbH öffentlich zu warnen. Diesen Antrag lehnte das Verwal­tungs­gericht mit Beschluss vom selben Tag ab.

Das Bayerische Staats­mi­nis­terium für Umwelt und Verbrau­cher­schutz warnte daraufhin in einer noch am 27. Mai 2016 in den Abendstunden veröf­fent­lichten Presse­mit­teilung vor allen Schinken- und Wurstprodukten der S-GmbH wegen einer möglichen Kontamination mit Listeria monocytogenes.

Aufgrund eines sofort vollziehbaren Bescheids der Lebens­mit­te­l­über­wa­chungs­behörde rief die S-GmbH am 29. Mai 2016 in einer Presse­mit­teilung alle Produkte ihres Sortiments zurück und stellte die Auslieferung von Waren aus dem Produk­ti­o­ns­s­tandort G. ein.

Der Kläger hat Schadensersatz in Höhe von 46.591,90 € begehrt wegen des Rückrufs von nachpas­teu­ri­sierten beziehungsweise vor dem Verzehr zwingend zu erhitzenden Produkten, von denen nach seiner Behauptung keine gesund­heit­lichen Gefahren ausgegangen seien. Außerdem hat er Ersatz des durch die Insolvenz der S-GmbH entstandenen Schadens verlangt, den er mit 10.709.199,73 € beziffert hat.

Prozessverlauf

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlan­des­gericht das landge­richtliche Urteil abgeändert. Unter Berück­sich­tigung eines Mitverschuldens des Geschäfts­führers der S-GmbH bestehe ein Anspruch des Klägers auf Ersatz von zwei Dritteln des Schadens, welcher dadurch entstanden sei, dass in der Presse­mit­teilung vom 27. Mai 2016 undifferenziert vor dem Konsum sämtlicher Schinken- und Wurstprodukte gewarnt und bestimmte in der Verpackung - werkseitig - nachpas­teu­ri­sierte Produkte von der Warnung und der Rückruf- und Unter­sa­gungs­a­n­ordnung nicht ausgenommen worden seien.

Die Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs:

Die Revision des Beklagten hatte Erfolg. Sie führte zur Aufhebung des Berufungs­urteils und zur Zurück­ver­weisung der Sache an das Berufungs­gericht, soweit zum Nachteil des Beklagten erkannt wurde.

Mit Recht hat das Berufungs­gericht angenommen, dass eine Warnung vor dem Verzehr potentiell gefährlicher Schinken- und Wurstprodukte der S-GmbH auf der Grundlage von § 39 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nr. 9, § 40 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 des Lebensmittel- und Futter­mit­tel­ge­setzbuchs (LFGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Januar 2016 Lebensmittel- und Futter­mit­tel­ge­setzbuchs (LFGB) i.V.m. Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebens­mit­tel­rechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebens­mit­tel­si­cherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebens­mit­tel­si­cherheit (Basisverordnung) grundsätzlich ergehen durfte.

Im Zeitpunkt der Produktwarnung lagen hinreichende Anhaltspunkte für eine von Erzeugnissen der Insol­venz­schuldnerin ausgehende Gefährdung für die Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher vor. Die Anhaltspunkte für eine Gesund­heits­ge­fährdung beschränkten sich dabei nicht auf Wammerlprodukte, sondern erfassten auch weitere Wurstprodukte.

Indessen ist die Würdigung des Berufungs­ge­richts, die zuständigen Beamten hätten amtspflicht­widrig gehandelt, da sie nachpas­teu­ri­sierte Produkte von der Warnung nicht ausgenommen hätten, nicht frei von Rechtsfehlern. Auf der Grundlage der vom Berufungs­gericht getroffenen Feststellungen kann nicht angenommen werden, dass nachpas­teu­ri­sierte Produkte von der Warnung hätten ausgenommen werden müssen. Das Berufungs­gericht hat nämlich festgestellt, dass keiner der als Zeugen vernommenen Mitarbeiter der Gesund­heits­be­hörden bei seit 2011 durchgeführten Betrie­bs­kon­trollen Wahrnehmungen gemacht oder Unterlagen gesehen hat, die auf ein Nachpas­teu­ri­sieren von Produkten hätten schließen lassen. Insbesondere enthielten weder die Produktlisten der S- GmbH noch die Gefah­re­n­analysen (sog. HACCP = Hazard Analysis Critical Control Points) Hinweise auf eine Nachpas­teu­ri­sierung, obwohl diese als kritischer Kontrollpunkt hätte ausgewiesen werden müssen. Ebenso wenig erfolgten mündliche Hinweise vonseiten des damaligen Geschäfts­führers der S-GmbH oder von Beschäftigten auf einen Nachpas­teu­ri­sie­rungs­prozess.

Die zuständigen Beamten waren nicht verpflichtet, von sich aus durch Befragung des Personals der Insol­venz­schuldnerin gleichsam "ins Blaue hinein" zu eruieren, ob und welche nachpas­teu­ri­sierten Erzeugnisse die Insol­venz­schuldnerin in ihrem Sortiment führte. Was ein Amtsträger trotz sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung im Zeitpunkt seiner Entscheidung "nicht sieht" und nach den ihm zur Verfügung stehenden Erkennt­nis­quellen auch "nicht zu sehen braucht", kann von ihm nicht berücksichtigt werden und braucht von ihm auch nicht berücksichtigt zu werden. Das Berufungs­gericht hat die Anforderungen an die Pflicht zur Sachver­halt­s­er­mittlung überspannt und verkannt, dass es der Insol­venz­schuldnerin auf Grund ihrer Mitwirkungs- und Koope­ra­ti­o­ns­pflicht oblag, auf unbedenkliche Produkte in ihrem Sortiment von sich aus aktiv hinzuweisen.

Die Amtser­mitt­lungs­pflicht der zuständigen Beamten war auf Grund des zwischen der Insol­venz­schuldnerin als Lebens­mit­tel­un­ter­nehmer und den Behörden des Beklagten bestehenden Koope­ra­ti­o­ns­ver­hält­nisses begrenzt. Die Insol­venz­schuldnerin war verpflichtet, an der Warnung aktiv mitzuwirken und dafür Sorge zu tragen, dass die Verbraucher zutreffend darüber informiert wurden, von welchen Produkten eine Gefährdung ausging. Die Insol­venz­schuldnerin traf diesbezüglich nicht nur eine allgemeine Mitwir­kungs­ob­lie­genheit, sondern eine echte Mitwirkungs- und Koope­ra­ti­o­ns­pflicht.

Nach der Systematik des Unionsrechts sind die Unternehmen primär und vollumfänglich für die Sicherheit von Erzeugnissen und die Einhaltung der einschlägigen Normen verantwortlich. Art. 19 Abs. 4 Basisverordnung sieht ausdrücklich vor, dass die Lebens­mit­tel­un­ter­nehmer bei Maßnahmen, die getroffen werden, um die Risiken durch ein Lebensmittel, das sie liefern oder geliefert haben, zu vermeiden oder zu verringern, mit den zuständigen Behörden zusam­me­n­a­r­beiten müssen.

Die Insol­venz­schuldnerin war nach den dargelegten Grundsätzen verpflichtet, an der Warnung aktiv mitzuwirken. Auf nachpas­teu­ri­sierte und damit unbedenkliche Produkte in ihrem Sortiment hätte sie schon deshalb hinweisen müssen, weil es sich bei der Nachpas­teu­ri­sierung um einen betrie­bs­in­ternen Vorgang im Rahmen der Produktion handelte, der sich außerhalb der Wahrnehmung der Behörden abspielte.

Die Pflicht der zuständigen Beamten, den Sachverhalt von sich aus durch eigene Ermittlungen weiter aufzuklären, war auf Grund der der Insol­venz­schuldnerin obliegenden Mitwirkungs- und Koope­ra­ti­o­ns­pflicht begrenzt. Die Gesund­heits­be­hörden durften darauf vertrauen, dass die Insol­venz­schuldnerin einen Hinweis auf nachpas­teu­ri­sierte Lebensmittel spätestens nach Ankündigung der umfassenden Produktwarnung vorgebracht hätte.

Das Berufungs­gericht hat jedoch die Behauptung des Klägers dahinstehen lassen, die Behör­den­mi­t­a­r­beiter hätten positive Kenntnis von der Nachpas­teu­ri­sierung gehabt, und die hierfür benannten Zeugen nicht vernommen. Selbst wenn diese noch zu vernehmenden Zeugen das positive Wissen der Behör­den­mi­t­a­r­beiter um den Nachpas­teu­ri­sie­rungs­prozess nicht bestätigen sollten, erscheint es nicht ausgeschlossen, dass sich daraus Anhaltspunkte für ein fahrlässiges Verhalten von Amtsträgern ergeben könnten.

Die noch zu treffenden ergänzenden Feststellungen sind auch entscheidend dafür, ob eine Amtspflicht­ver­letzung zudem darin zu sehen ist, dass der angeordnete Produktrückruf und die Untersagung, Produkte aus der Produk­ti­o­ns­anlage in G. als Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, auch nachpas­teu­ri­sierte Produkte umfassten.

Quelle: Bundesgerichtshof, ra-online (pm/pt)

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil34677

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI