21.11.2024
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Bundesgerichtshof Beschluss12.10.2006

BGH legt Europäischem Gerichtshof Fragen zum gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruch vorFragen zum Grund sowie Verjährung des gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruchs sowie zum Vorrang des Primär­rechts­schutzes

Die Klägerin begehrt aus abgetretenem Recht dänischer Schweinezüchter und Schlacht­hof­ge­sell­schaften von der beklagten Bundesrepublik Deutschland Schadensersatz wegen der Verletzung europäischen Gemein­schafts­rechts. Gegenstand des Verfahrens ist der von der Klägerin erhobene Vorwurf, die Beklagte habe von Anfang 1993 bis 1999 entgegen dem geltenden Gemein­schaftsrecht faktisch ein Importverbot verhängt, das sich auf Fleisch von nicht kastrierten männlichen Schweinen aus Dänemark bezogen habe. Hierdurch sei den Schwei­ne­züchtern und Schlacht­hof­ge­sell­schaften in der genannten Zeit ein Schaden von mindestens 280.000.000 DM entstanden.

Dem lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: In Dänemark wurde Anfang der neunziger Jahre das „Male-Pig-Projekt“ zur Aufzucht nicht kastrierter männlicher Schweine ins Leben gerufen. Diese - nach der Behauptung der Klägerin wirtschaftlich vorteilhaftere - Aufzucht birgt die Gefahr, dass das Fleisch beim Erhitzen einen strengen Geruch bzw. Geschmack, den sog. Geschlechts­geruch, aufweisen kann, wobei diese Gefahr mit zunehmendem Alter und Gewicht der Schweine zum Schlacht­zeitpunkt zunimmt. Nach Auffassung der dänischen Forschung lässt sich diese Geruchs­be­lastung bereits beim Schlachtvorgang durch Prüfung des Skatolgehalts, eines im Darm gebildeten Abbauprodukts, feststellen und geruchs­be­lastetes Fleisch aussortieren. Nach Auffassung der deutschen Seite geht die Geruchs­be­lastung auf das Hormon Androstenon zurück, dessen Bildung durch eine frühe Kastration ausgeschaltet werden könne; der Skatolgehalt sei für sich allein betrachtet kein Maß für den Geschlechts­geruch und seine Prüfung führe daher zu keinen zuverlässigen Ergebnissen.

Der gemein­schafts­rechtliche Rahmen sah wie folgt aus: Durch die Richtlinie des Rates vom 11. Dezember 1989 zur Regelung der veteri­när­recht­lichen Kontrollen im inner­ge­mein­schaft­lichen Handel im Hinblick auf den gemeinsamen Binnenmarkt (89/662/EWG) wurde das bisherige System der Grenzkontrollen zugunsten einer durch den Versand­mit­gliedstaat durch­zu­füh­renden veteri­när­recht­lichen Kontrolle abgelöst; der zuständigen Behörde an den Bestim­mungsorten sollte nur eine nicht­dis­kri­mi­nierende veteri­när­rechtliche Kontrolle im Stich­pro­ben­ver­fahren vorbehalten bleiben. In Art. 8 dieser Richtlinie ist ein Verfahren zur Regelung des Falls vorgesehen, dass die Übereinstimmung des Fleisches mit den geltenden gesund­heits­recht­lichen Vorschriften von den zuständigen Behörden des Bestimmungs- und des Ursprungslands unterschiedlich beurteilt wird. In der Richtlinie 64/433/EWG des Rates vom 26. Juni 1964 über die gesund­heit­lichen Bedingungen für die Gewinnung und das Inver­kehr­bringen von frischem Fleisch, die durch die bis zum 1. Januar 1993 umzusetzende Richtlinie des Rates vom 29. Juli 1991 neu gefasst worden ist, heißt es in Art. 5 Abs. 1 Buchst. o, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass der amtliche Tierarzt Fleisch, das einen starken Geschlechts­geruch aufweist, für genuss­un­tauglich erklärt. Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b Ziffer iii tragen die Mitgliedstaaten Sorge dafür, dass Fleisch - unbeschadet der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. o vorgesehenen Fälle - von nicht kastrierten männlichen Schweinen mit einem Tierkör­per­gewicht von mehr als 80 kg ein besonderes Kennzeichen trägt oder einer Hitzebehandlung unterzogen wird, außer wenn der Betrieb durch eine nach dem Verfahren des Art. 16 anerkannte bzw. - wenn kein entsprechender Beschluss gefasst worden ist - durch eine von den zuständigen Behörden anerkannte Methode sicherstellen kann, dass Schlachtkörper mit einem starken Geschlechts­geruch festgestellt werden können.

Die Beklagte teilte den obersten Veteri­nä­r­be­hörden der Mitgliedstaaten durch den Bundesminister für Gesundheit im Januar 1993 mit, die Regelung in Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 64/633/EWG werde in der Weise in nationales deutsches Recht umgesetzt, dass unabhängig von der Gewichtsgrenze ein Wert von ,5 µg/g Androstenon festgesetzt werde. Bei Überschreitung dieses Wertes weise das Fleisch einen starken Geschlechts­geruch auf und sei nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. o untauglich zum Genuss für Menschen. Als Methode zum Nachweis des Androstenons werde nur der modifizierte Immunoenzymtest nach Prof. Claus als spezifisch anerkannt. Das Fleisch männlicher, nicht kastrierter Schweine, bei dem dieser Wert überschritten werde, dürfe nicht als frisches Fleisch in die Bundesrepublik Deutschland verbracht werden. Weiter heißt es in dem Schreiben, im Einvernehmen mit der EG-Kommission und dem Rat bei Beschluss der Richtlinie 91/497/EWG werde für alle Sendungen von Schweinefleisch aus anderen Mitgliedstaaten Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 89/622/EWG angewandt. Schwei­ne­fleisch­sen­dungen würden am Bestimmungsort, unabhängig von ihrer Genuss­taug­lich­keits­kenn­zeichnung, auf die Einhaltung des Grenzwertes überprüft und bei Überschreitung des Wertes beanstandet.

Nachdem die Beklagte und die Kommission keine Einigung über die Auslegung der gemein­schafts­recht­lichen Normen finden konnten, stellte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auf die von der Kommission im Jahr 1996 erhobene Vertrags­ver­let­zungsklage durch Urteil vom 12. November 1998 (Rs. C-102/96) einen Verstoß der Beklagten gegen die genannten Richt­li­ni­en­be­stim­mungen fest.

Die Klägerin hat den geltend gemachten Schaden­s­er­satz­an­spruch auf die Behauptung gestützt, die dänischen Schweinezüchter und Schlacht­hof­ge­sell­schaften hätten im Hinblick auf das gemein­schafts­widrige Verhalten der Beklagten zunächst die Produktion nicht kastrierter männlicher Schweine vermindert und im Oktober 1993 nahezu vollständig eingestellt. Um den Export von Schweinefleisch nach Deutschland nicht zu gefährden, seien männliche Schweine in dem notwendigen Umfang kastriert aufgezogen worden. In der Zeit von 1993 bis 1999 seien etwa 39 Millionen kastriert aufgezogene Schweine für die Vermarktung in Deutschland geschlachtet worden. Bei der Vermarktung einer entsprechenden Menge unkastrierter männlicher Schweine hätten sich für sie Kosten­ein­spa­rungen von mindestens 280.000.000 DM ergeben.

Beide Vorinstanzen haben die Beklagte dem Grunde nach für verpflichtet gehalten, der Klägerin den erlittenen Schaden zu ersetzen. Das Landgericht hat die Klage im Hinblick auf die Beantragung eines Mahnbescheids am 6. Dezember 1999 allerdings insoweit als verjährt abgewiesen, als es um Ersatzansprüche für Schäden geht, die bis zum 6. Dezember 1996 entstanden sind. Demgegenüber hat das Berufungs­gericht die Ansprüche insgesamt für unverjährt angesehen. Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt.

Der unter anderem für Staats­haf­tungs­ansprüche zuständige III. Zivilsenat des Bundes­ge­richtshofs hat das Revisi­ons­ver­fahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen zum Grund sowie zur Verjährung des gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruchs sowie zum Vorrang des Primär­rechts­schutzes vorgelegt. Der Senat möchte vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wissen, ob den dänischen Schwei­ne­züchtern und Schlacht­hof­ge­sell­schaften durch die genannten Richtlinien Rechte verliehen worden sind, deren Verletzung einen gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruch auslösen kann, oder ob sie sich unmittelbar auf eine Verletzung der Waren­ver­kehrs­freiheit (Art. 28 EG; früher Art. 30 EG-Vertrag) berufen können, falls dies zu verneinen sein sollte. Ferner strebt der Senat vor dem Hintergrund der nationalen Rechtslage, nach der der gemein­schafts­rechtliche Staats­haf­tungs­an­spruch wie der Amtshaf­tungs­an­spruch in drei Jahren verjährt, eine Klärung der Frage an, ob die Verjährung im Hinblick auf ein Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren vor dem Gerichtshof unterbrochen oder ihr Lauf bis zu dessen Beendigung gehemmt wird, wenn es an einem effektiven inner­staat­lichen Rechtsbehelf fehlt, den Mitgliedstaat zur Umsetzung einer Richtlinie zu zwingen. Weiter möchte er wissen, ob die Verjäh­rungsfrist für einen gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruch, der auf die unzureichende Umsetzung einer Richtlinie und auf ein damit einhergehendes Importverbot gegründet ist, erst mit deren vollständiger Umsetzung zu laufen beginnt oder ob die Frist – in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht – schon dann zu laufen beginnen kann, wenn erste Schadensfolgen bereits eingetreten und weitere Schadensfolgen absehbar sind. Schließlich möchte der Senat dem Gerichtshof Gelegenheit geben, seine Rechtsprechung zum Einfluss des Vorrangs des Primär­rechts­schutzes auf den gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruch zu verdeutlichen. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob ein Geschädigter zur Meidung eines Anspruchs­verlusts eine bestehende und ihm zumutbare Möglichkeit des Primär­rechts­schutzes grundsätzlich wahrnehmen und sich auf die Wirkungen des Gemeinschaftsrecht berufen muss, oder ob er hiervon absehen darf, wenn der nationale Richter die gemein­schafts­rechtliche Frage voraussichtlich nicht ohne Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften beantworten kann oder wenn bereits ein Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren anhängig ist.

Erläuterungen

Vorinstanzen

LG Bonn - 1 O 459/00 - Entscheidung vom 30. Januar 2004

OLG Köln - 7 U 29/04 - Entscheidung vom 2. Juni 2005 Bund haftet dänischen Schwei­ne­züchtern für Verstoß gegen EU-Recht

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 137/06 des BGH vom 13.10.2006

der Leitsatz

Richtlinie 64/433/EWG des Rates vom 26. Juni 1964 in der Fassung der Richtlinie 91/497/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 (ABl.EG 1991 Nr. L 268 S. 69) Art. 5 Abs. 1 Buchst. o, Art. 6 Abs. 1 Buchst. b Ziffer iii; Richtlinie 89/662/EWG des Rates vom 11. Dezember 1989 (ABl.EG 1989 Nr. L 395 S. 13) Art. 5 Abs. 1, Art. 7, Art. 8; BGB §§ 839 (H), 852 Abs. 1 (a.F.)

Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art. 234 EG folgende Fragen zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt:

a) Verleihen die Bestimmungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. o und des Art. 6 Abs. 1 Buchst. b Ziffer iii der Richtlinie 64/433/EWG des Rates vom 26. Juni 1964 zur Regelung gesund­heit­licher Fragen beim inner­ge­mein­schaft­lichen Handelsverkehr mit frischem Fleisch in der Fassung der Richtlinie 91/497/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 (ABl.EG 1991 Nr. L 268 S. 69) in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1, Art. 7 und Art. 8 der Richtlinie 89/662/EWG des Rates vom 11. Dezember 1989 zur Regelung der veteri­när­recht­lichen Kontrollen im inner­ge­mein­schaft­lichen Handel im Hinblick auf den gemeinsamen Binnenmarkt (ABl.EG 1989 Nr. L 395 S. 13) den Produzenten und Vermarktern von Schweinefleisch eine Rechtsposition, die bei Umsetzungs- oder Anwen­dungs­fehlern einen gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruch auslösen kann?

b) Können sich die Produzenten und Vermarkter von Schweinefleisch - unabhängig von der Beantwortung der ersten Frage - zur Begründung eines gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruchs bei einer gegen das europäische Gemein­schaftsrecht verstoßenden Umsetzung und Anwendung der genannten Richtlinien auf eine Verletzung von Art. 30 EGV (= Art. 28 EG) berufen?

c) Verlangt das Gemein­schaftsrecht, dass die Verjährung des gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruchs im Hinblick auf ein Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren nach Art. 226 EG unterbrochen oder ihr Lauf bis zu dessen Beendigung jedenfalls dann gehemmt wird, wenn es an einem effektiven inner­staat­lichen Rechtsbehelf fehlt, den Mitgliedstaat zur Umsetzung einer Richtlinie zu zwingen?

d) Beginnt die Verjäh­rungsfrist für einen gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruch, der auf die unzureichende Umsetzung einer Richtlinie und ein damit einhergehendes (faktisches) Importverbot gegründet ist, unabhängig von dem anwendbaren nationalen Recht erst mit deren vollständiger Umsetzung oder kann die Verjäh­rungsfrist in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht schon dann zu laufen beginnen, wenn erste Schadensfolgen bereits eingetreten und weitere Schadensfolgen absehbar sind? Sollte die vollständige Umsetzung den Verjäh­rungs­beginn beeinflussen, gilt dies dann allgemein oder nur, wenn die Richtlinie dem Einzelnen ein Recht verleiht?

e) Bestehen unter dem Gesichtspunkt, dass die Mitgliedstaaten die schaden­s­er­satz­recht­lichen Voraussetzungen für den gemein­schafts­recht­lichen Staats­haf­tungs­an­spruch nicht ungünstiger ausgestalten dürfen als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen, und dass die Erlangung einer Entschädigung nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf, allgemein Bedenken gegen eine nationale Regelung, nach der die Ersatzpflicht nicht eintritt, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden? Bestehen auch dann Bedenken gegen diesen "Vorrang des Primär­rechts­schutzes", wenn er unter dem Vorbehalt steht, dass er dem Betroffenen zumutbar sein muss? Ist er bereits dann im Sinne des europäischen Gemein­schafts­rechts unzumutbar, wenn das angegangene Gericht die in Rede stehenden gemein­schafts­recht­lichen Fragen voraussichtlich nicht ohne Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften beantworten könnte oder wenn bereits ein Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren nach Art. 226 EG anhängig ist?

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